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17.03.2021 von Esther Banz

Rückenwind bei Neuanfängen

ABS-Kreditporträt: Als 1995 Zürichs offene Drogenszene aufgelöst wurde, ermöglichte die Vier-Säulen-Politik Therapieangebote für Süchtige. Auch die Stiftung Start Again hat ihren Ursprung in dieser Zeit. Heute unterstützt sie Jugendliche und junge Erwachsene in der beruflichen und sozialen Integration. Geld ist dabei immer Thema.


Beitrag der ABS
Artikel in Thema Porträts
Im Move-Tageszentrum erhalten Jugendliche und junge Erwachsene eine ganzheitliche Unterstützung auf dem Weg ins Berufsleben. alle Fotos: zvg
Hottingen ist ein ruhiges, gehobenes Zürcher Quartier. Hier hat es, unweit der grossen Kulturhäuser Schauspielhaus und Kunsthaus, verschiedene Kantonsschulen, weitherum bekannte Bäckereien und viele altehrwürdige, gut erhaltene Wohn- und Geschäftshäuser. Hier und nicht etwa im jüngeren, «wilderen» Aussersihl ist auch die Stiftung Start Again zu Hause, an drei verschiedenen, aber nahe beieinander liegenden Adressen: Ins MOVE-Tageszentrum kommen von Montag bis Freitag Jugendliche und junge Erwachsene, die Unterstützung brauchen auf ihrem Weg ins Berufs- und Erwachsenenleben. Im Wohn- und Therapieangebot MYPLACE-Jungeswohnen leben vorübergehend junge Menschen, die sucht- und sozialtherapeutisch begleitet werden. Und am Hottingerplatz ist die Geschäftsstelle der Stiftung Start Again, die MOVE und MYPLACE betreibt. Start Again war lange ein Verein und wurde 2019 in eine Stiftung überführt. Der Verein gehörte zu den ersten Akteuren in Zürich, die nach der Auflösung der offenen Drogenszene ein Angebot für Suchttherapie aufbauten, das nachhaltig sein sollte.

Alltag als Therapie

Bis Mitte der 1990er-Jahre litt die Stadt Zürich, insbesondere die suchtkranken Menschen, unter den elenden Zuständen in der offenen Drogenszene. Erst eine städtische Volksabstimmung und eine progressive Wende in der Drogenpolitik auch auf Bundesebene brachte mit der Einführung der Vier-Säulen-Politik Verbesserungen und beendete die zuvor praktizierte einseitige Repression. Zusätzlich zu Prävention und Repression beinhaltete die Vier-Säulen-Politik auch Therapien und Sozialhilfe für abhängige Menschen. Bis heute verfolgt die hiesige Drogenpolitik diesen Ansatz. Verschiedene Therapieanbieter haben ihren Ursprung in jener Zeit; manche sind wieder verschwunden, andere – darunter auch Start Again – konnten sich etablieren. 
Timo Gähler, seit einem Jahr Geschäftsführer der Stiftung, beschreibt den charakteristischen Ansatz von Start Again so: «Ziel war schon bei der Gründung die Reintegration suchtkranker Menschen in den ersten Arbeitsmarkt. Wer am Programm teilnahm, erhielt Einzeltherapie, aber war auch in einer Gruppentherapie und arbeitete in der realen Arbeitswelt, nicht in Werkstätten oder an geschützten Arbeitsplätzen. Alltag als Therapie war immer Teil des Konzepts.» 
Der heutige Geschäftsführer arbeitet schon seit zehn Jahren in der Institution, auch direkt mit den Jugendlichen: «Unsere Klientinnen und Klienten sind zwischen 16 und 25 Jahre alt. Die meisten tragen schon in diesem jungen Alter einen schweren Rucksack», sagt er. Um sie auf ihrem Weg (zurück) in die Autonomie zu unterstützen, sei es wichtig, das System zu kennen, in dem sie aufgewachsen sind und in dem sie jetzt leben: «Deshalb interessieren uns ihre Geschichte und ihr Umfeld. Dieser systemische Zugang hilft uns, ihre Hindernisse ebenso wie ihre Ressourcen besser zu verstehen.»

Brücken statt Brüche

Hypothekarkundin der Alternativen Bank Schweiz (ABS) wurde Start Again bereits in der Gründungszeit vor über 25 Jahren, als der damalige Verein vom Schweizerischen Arbeiterhilfswerk ein vierstöckiges Haus in Zürich Hottingen übernehmen konnte. «Zur ABS entwickelte sich nicht nur ein mittlerweile zweieinhalb Jahrzehnte dauerndes Vertrauensverhältnis», sagt Timo Gähler, «es ist viel mehr: Mit einer Bank unterwegs zu sein, die die eigenen Werte teilt und für die auch soziale Nachhaltigkeit zum Kerngeschäft gehört: Das ist nicht selbstverständlich.»
Die Wertschätzung und das Vertrauen beruhen auf Gegenseitigkeit. Start Again habe von Anfang an einen eigenen Weg eingeschlagen, weiss Marlise Meier, die als Kundenberaterin bei der ABS viele Jahre mit der Organisation zusammenarbeitete: «Das Team von Start Again ging nicht wie andere damals auf den Berg, um die Klientinnen und Klienten fernab der Zivilisation zu therapieren, sondern man blieb bewusst mitten in der Stadt. Der Verein provozierte also nicht den Bruch, sondern baute den Menschen eine Brücke. Weil man wusste: Die Klientinnen und Klienten müssen früher oder später ohnehin wieder in die Stadt zurück.»

«Mit einer Bank unterwegs zu sein, die die eigenen Werte teilt und für die auch soziale Nachhaltigkeit zum Kerngeschäft gehört: Das ist nicht selbstverständlich.»
Timo Gähler


Als Brückenbauerin versteht sich die Organisation noch heute: Sie unterstützt belastete Jugendliche und junge Erwachsene, für die der Übertritt ins Berufs- und Erwachsenenleben erschwert ist. Im MOVE-Tageszentrum, das Timo Gähler vor zehn Jahren mitaufgebaut hat, lernen, arbeiten und essen die Teilnehmenden ganztags. Man habe klein angefangen, mit drei bis vier Klientinnen und Klienten, erzählt Gähler, «inzwischen sind es um die zwanzig junge Frauen und Männer. Ungefähr noch mal so viele Personen begleiten wir auch nach dem Abschluss ihres MOVE-Programms mit einem Job-Coaching.» Die Nachfrage nach Plätzen übersteige immer die Kapazitäten, «deshalb haben wir Wartezeiten. Ich habe generell das Gefühl, dass heute mehr Jugendliche einen Platz bei uns brauchen.» 
Die Stiftung hat staatliche Leistungsaufträge, unter anderem mit dem Kanton und der IV. «Wir haben Klientinnen und Klienten, bei denen der Konsum von Drogen ‹nur› eines von mehreren grösseren Problemen ist», sagt Timo Gähler. «Sie müssen heute nicht mehr abstinent sein, um am Programm teilnehmen zu können, wie das früher verlangt wurde – aber wir erwarten, dass sie ihr Konsumverhalten reflektieren.»

Zurück in die Autonomie

Autonomie ist ein wichtiges Ziel des Programms. Doch am Anfang sei eine gewisse finanzielle Abhängigkeit unvermeidlich, denn die Leistungen des Programms und der Grundbedarf der Jugendlichen werden zumeist von der Sozialhilfe oder der IV finanziert, erklärt Timo Gähler: «Das Geld, das die Jugendlichen verdienen, geht deshalb direkt ans Sozialamt, das ihnen pro Monat 450 Franken zahlt. Davon müssen sie ihre Handykosten, Hygieneartikel, Snacks und Getränke bezahlen – und Zigaretten, falls sie rauchen. Für mehr reicht es kaum. Das Geld wird wöchentlich ausbezahlt, damit die Jugendlichen nicht schon in der Mitte des Monats pleite sind», sagt Timo Gähler. Wer etwas Grösseres, etwa einen Computer, brauche, werde beim Schreiben des Antrags unterstützt. Der Umgang mit Geld und insbesondere mit Rechnungen überfordere viele, sagt Gähler: «Wenn jemand in der Krise ist, kann es vorkommen, dass er oder sie lange keine Briefe öffnet, schon gar nicht Rechnungen. Die meisten bringen Schulden mit, wenn sie zu uns kommen. Und in jedem dritten Erstgespräch hören wir, dass er oder sie Bussen abbezahlen oder mit gemeinnütziger Arbeit abarbeiten muss. Wir unterstützten die Jugendlichen darin, bei ihren finanziellen Verpflichtungen den Überblick zurückzugewinnen und Entscheidungen zu treffen: Was kann ich bezahlen? Wo kann ich stunden? Wie kann ich etwas sparen?» Es passiere nicht selten, dass den jungen Menschen alles, was mit Geld zu tun hat, über den Kopf wachse, erklärt Gähler: «Manche haben es nie gelernt. Sie kennen die Zahlungsfristen nicht, haben noch nie ein Budget aufgestellt.» 

Mit Geld umgehen lernen, von der Sucht wegkommen, den Einstieg in den Beruf finden und dort Fuss fassen – die Unterstützung der Stiftung Start Again deckt, wenn nötig, eine ganze Kette von ineinandergreifenden Elementen ab. Timo Gähler erläutert dies am Beispiel der jungen, alkoholabhängigen Klientin Anna (Name geändert): «Wir nahmen sie im MOVE-Tageszentrum auf, um gemeinsam die Berufsintegration zu bewältigen und eine Tagesstruktur zu schaffen.» Annas Suchtverhalten habe diesen Prozess immer wieder behindert, trotzdem sei schliesslich der Einstieg in ein Praktikum mit Aussicht auf eine Lehrstelle gelungen, erinnert sich Gähler. Während des Praktikums wurde Anna von einem Move-Jobcoach begleitet. Rückfälle in die Alkoholsucht gefährdeten zwischenzeitlich den Praktikumsplatz. Anna liess sich aber auf eine Therapie und einen Aufenthalt im MYPLACE ein. «Dies bewirkte mehr Halt in dieser kritischen Phase – besonders in den Abendstunden», erzählt Gähler: «Wir konnten mit dem Arbeitgeber ein reduziertes Pensum ausarbeiten, das Anna neben der Arbeit die Teilnahme an der Therapie ermöglichte.» Schrittweise fand die junge Frau zu Stabilität und konnte eine eigene Wohnung beziehen. Während des ganzen Prozesses blieb sie im ersten Arbeitsmarkt. Heute erhält sie ambulante Therapie und Begleitung durch den Jobcoach bis zum Lehrabschluss oder bis zur ersten Anstellung. Annas Weg mit Start Again zeigt: Menschen brauchen für Neuanfänge viel mehr als den Aufbruch – sie brauchen vor allem einen langen Atem und müssen Rückschläge verkraften.
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