Tim Jackson schrieb 2009 für die britische Regierung den Bericht «Wohlstand ohne Wachstum» über die Grundlagen einer künftigen Wirtschaft, welche die ökologischen Grenzen respektiert. Das Buch fand international grosse Beachtung und gilt heute als Standardwerk der Postwachstumsökonomie. In seinem neusten Buch «Wie wollen wir leben?» betrachtet Tim Jackson Postwachstumsthemen aus einer philosophischen Perspektive.
Vor den Sommerferien mehrten sich die Meldungen über die zunehmende Inflation. Wegen des Krieges gehen die Preise für Energie in die Höhe und nächstes Jahr steigen zudem die Krankenkassenprämien. In Bundesbern äusserten die Linken Sorgen um Menschen mit tiefen Einkommen. Am letzten Sommersessionstag konnte SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer einen Erfolg verkünden: Zusammen mit der bürgerlichen Mitte beschloss man eine ausserordentliche Session im Herbst zur Sicherung der Kaufkraft. Das ist pragmatische linke Politik und sicher sinnvoller als der Vorschlag der SVP, das Benzin zu verbilligen. Nur: Ist «Kaufkraft sichern» noch die richtige Zieldefinition für eine links-grüne Politik? Und etwas grundsätzlicher: Welche Strategien haben die links-grünen Parteien in einer von Bürgerlichen dominierten nationalen Politik eigentlich, um Wirtschaft und Gesellschaft umwelt- und zugleich sozialverträglich umzubauen – angesichts der rasant akuter werdenden Klimakrise und des schnell voranschreitenden Artensterbens?
Planetare Grenzen nicht mehr überschreiten
Im Frühjahr 2021 reichte Valentine Python eine parlamentarische Initiative ein: Die grüne Nationalrätin möchte das wissenschaftliche Konzept der planetaren Belastungsgrenzen in der Bundesverfassung und im Umweltschutzgesetz verankern. Konkret geht es um die in ihrem Gleichgewicht bedrohten Böden, Wälder und Ozeane, um die Ozonschicht, die Luft, das Süsswasser und die Biodiversität. Die Initiative hält fest, dass die Menschen mit Düngemitteln, Industrie, Konsum, Abholzung, einer immer stärkeren Landnutzung und der Verbrennung fossiler Energien einen ökologischen Notstand produziert haben, der weit über den Klimanotstand hinausreicht; das weltweite Artensterben ist eine der dramatischsten Folgen dieser Übernutzung unserer Ökosysteme. Findet Pythons Initiative im Parlament eine Mehrheit, muss die Schweiz eine gesetzliche Grundlage erarbeiten, damit sich die Gesellschaft sicher und gerecht innerhalb der ökologischen Grenzen entwickeln kann.
Dieses Ansinnen verfolgt auch die Umweltverantwortungsinitiative der Jungen Grünen. Warum die Transformation hin zu Wachstumsunabhängigkeit den Menschen eine bessere Lebensqualität bescheren wird, erläutert Co-Präsidentin Julia Küng im Interview unter dem Hauptartikel.
Es braucht neue wirtschaftspolitische Ansätze
In der vergangenen Sommersession reichten die Grünen im Nationalrat ausserdem vier weitere (post)wachstumsrelevante Vorstösse ein, etwa die Interpellation «Switzerland beyond Growth» der St. Galler Nationalrätin Franziska Ryser. Darin schreibt sie unter anderem, dass Wirtschafswachstum Erwartungen wie zunehmende soziale Wohlfahrt, Lebensqualität oder Vollbeschäftigung immer weniger erfülle; Indikatoren zeigten sogar, dass in reichen Ländern wie der Schweiz mit Wachstum die Lebensqualität inzwischen zurückgeht. Der Grund dafür ist laut Raphael Noser, Grünen-Fachsekretär für Wirtschafts- und Sozialpolitik, dass heute ein Grossteil des Produktivitätswachstums an die Kapitalbesitzerinnen und -besitzer und das Top-Management grosser Konzerne fliesst, anstatt in Arbeitszeitreduktion oder eine Anhebung der Löhne bei den unteren und mittleren Einkommensschichten. Wirtschaftswachstum erhöht damit nicht mehr den Lebensstandard für alle, wie es das bis in die 1990er-Jahre zumindest in den Ländern des globalen Nordens getan hat, sondern öffnet die Schere zwischen Arm und Reich.
Franziska Ryser erwähnt in ihrer Interpellation zudem, dass die Wachstumsraten seit Jahrzehnten am Sinken sind – was Politik und Wirtschaft zunehmend beunruhigt, weil verschiedenartige Abhängigkeiten vom Wirtschaftswachstum bestehen. Entsprechend fordert die grüne Nationalrätin vom Bundesrat zu klären, wie die Schweiz mit abnehmenden oder gar negativen Wachstumsraten umgehen und wachstumsunabhängig werden kann.