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04.12.2024 von Pieter Poldervaart

Lernen für die Zeit danach

In schwierigen sozialen Situationen hilft Jugendlichen häufig eine Auszeit. Im Nido del Lupo im bünd­nerischen Alvaneu finden sie neue berufliche und persönliche Perspektiven.


Beitrag der ABS
Artikel in Thema Hoffnung
Foto: zvg
Das Nido del Lupo (Wolfsnest) ist eine ­Institution mit interner Schule, zirkuspäda­gogischem Angebot und Arbeitsprojekten für junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen.

Einmal pro Stunde fährt ein Postauto von Alvaneu nach Davos, einmal nach Chur. Diese Abgeschiedenheit habe auch ihr Gutes, ist Marina Venzin überzeugt. Sie ist Leiterin des sozialpädagogischen Teams im Nido del Lupo, dem «Wolfsnest», wie sich das Heim für Jugend­liche nennt. Das Team umfasst neben vier Sozialpäda­goginnen und Sozialpädagogen auch einen Zivildienst­leistenden und je eine Person in einem Ausbildungs- und ­einem Vorpraktikum. «Wir sind seit 17 Jahren hier im Dorf eingebettet», sagt Venzin. «Die Ruhe hilft den ­Jugendlichen, sich neu zu orientieren.»
Das vierstöckige, 1930 erbaute Haus an der Hauptstrasse gleich neben dem Volg strahlt Behäbigkeit aus, die Aussicht auf die Berge auf der anderen Talseite ist grandios. Hier werden die maximal sieben Klientinnen und Klienten von Montag bis Donnerstag jeweils vor­mittags unterrichtet, eine Lehrperson entwickelt nach dem Ein­stufungstest für jede und jeden ein eigenes Programm. Wer im Unterricht fehlt, muss den verpassten Stoff ­nachbüffeln. An den Nachmittagen machen die Jugendlichen Sport, arbeiten an einem eigenen Projekt oder ­hacken Holz für die Zentralheizung. Am Freitagvormittag stehen Jonglieren, Feuerschlucken und Trapezkünste auf dem Stundenplan, denn das Nido, wie Venzin das Heim nennt, studiert jedes Jahr ein bis zwei Zirkusprogramme ein. Dafür hat das Team vor zehn Jahren mit den damaligen Jugendlichen den Schopf umgebaut und mit Tanzmatte, Hochseil und Feuerringen ausgerüstet. Das Geprobte wird dann entweder der Dorfbevölkerung oder in einer Schweizer Tournee präsentiert.

Haushalt und Handwerkliches
Das frühere «Gasthaus u. Pension Simmen», wie heute noch auf der Fassade vermerkt ist, erfüllt seinen Zweck ideal. Die ursprüngliche Bar mit dem schweren Holztisch dient als Essbereich, im Stübli wird abends ein TV-Film angeschaut, gespielt oder gechillt, das Festsäli im ersten Stock ist zum Schulzimmer mit sieben Pulten umfunktioniert. Im zweiten und dritten Stock befinden sich die Einzelzimmer der Jugendlichen und ein Raum für jene Betreuungsperson, die über Nacht im Wolfsnest bleibt. Unter der ehemaligen Scheune ist eine moderne Werkstatt eingerichtet. Hier können Jugendliche, die mit einer Lehre für Holzverarbeitung oder Automobil-Mechatronik liebäugeln, entsprechende Tätigkeiten ausprobieren. Hält sich das Interesse, vermittelt der Berufswahl­coach eine Schnupperlehre in der näheren Umgebung. Am Freitagnachmittag ist Hauswirtschaft angesagt – neben dem persönlichen Zimmer werden auch die gemeinsam genutzten Räume auf Vordermann gebracht. Die eigene Kleidung waschen die Jugendlichen wie in einer WG selbst: Der Waschplan weist ihnen einen Tag zu.
«Beim Kauf der Liegenschaft vor 17 Jahren blitzten wir bei anderen Banken ab, als es um eine Hypothek ging. Ein solches Projekt passte halt nicht ins Tages­geschäft», erinnert sich Heimleiter Fabio Botta. Die ABS hingegen zeigte sich offen, studierte das Konzept des Trägervereins und bot Hand für den Kauf. Vor zehn ­Jahren stand die Ablösung der Öl- durch eine Stückholzheizung an, erneut half die ABS mit, die Hypothek ­aufzu­stocken. 2025 geht es an die Erneuerung der Gebäudehülle und die Installation einer Photovoltaikanlage auf dem Dach der Liegenschaft – wieder ist die ABS 
dabei.

Gerüstet für die Zukunft
Mindestens ein, maximal vier Jahre bleiben die Jugendlichen in der Bündner Kleininstitution, dann ziehen sie weiter: in eine Lehre, an eine weiterführende Schule, zurück nach Hause oder in ein begleitetes Wohnen. Im ­Nido del Lupo haben sie ihre obligatorische Schulzeit absolviert und wissen, in welche Richtung es beruflich geht. Ausserdem haben sie gelernt, für sich selbst zu sorgen. Vor allem aber haben sie – was ihnen vorher häufig gefehlt hat – Nähe, Anteilnahme und Wertschätzung ­erlebt.

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