Mein Lieblingsausweis heisst «Armuts-Zeugnis». Er ist blau, aus dünnem Karton und wenig grösser als eine Kreditkarte. Ausgestellt hat ihn das «Amt für Lebensfreude der Stadt Zürich» vor über zwanzig Jahren. Der Ausweis erlaubt den «freien Zugang zu sämtlichen Hintertürchen und Nebenzimmern», und wer ihn auf sich trägt, «darf dumme Fragen stellen und alle Antworten schuldig bleiben». Selbstverständlich hat nicht die Stadt diesen Ausweis gestaltet und ausgehändigt, sondern ein Künstler, der ein Nachbar war. Das Mehrfamilienhaus, in dem wir lebten, wurde renoviert und wir alle rausgeschmissen. Mein Mitbewohner Christian, auch er ein Künstler, zog nach Berlin. Als ich ihn dort besuchte, sagte er: «Ich möchte gerne zurückkommen. Aber hier kann ich überleben – ich wüsste nicht, wie ich das in Zürich anstellen sollte.»
Heute lebt Christian noch immer in Berlin, und noch immer in prekären Verhältnissen. Seine Freunde sind sich einig, dass er längst berühmt und erfolgreich sein sollte, so wie ein Kumpel von ihm aus dem Vorkurs der einstigen Kunstgewerbeschule Zürich, der jetzt zu den teuersten zeitgenössischen Malern weltweit gehört, Urs Fischer. Ein grösseres Bild von Urs Fischer kostet schnell einmal eine halbe Million. Fischer gehört zum einen Prozent der Kunst-Superstars, Studienkollege Christian zu den andern 99 Prozent. Die beiden sind repräsentativ für den ganzen Berufsstand.