500
29.11.2023 von Roland Fischer

«Ich wäre vorsichtig, das Zeitalter der Knappheit auszurufen»

Der Begriff Knappheit hat in den politischen und gesellschaftlichen Debatten in unseren Breitengraden Konjunktur. Der Kulturwissenschaftler Markus Tauschek findet es wichtig, dass wir darüber nachdenken, wie wir über Knappheit sprechen, und auch darüber, wie der Begriff instrumentalisiert wird. 

Artikel in Thema Knappheit
Illustration: Claudine Etter

moneta: Herr Tauschek, Sie haben ein Buch aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu «Knappheit, Mangel, Überfluss» herausgegeben. Da geht es auch um die Dekonstruktion und historische Einordnung unserer Idee von Knappheit. Läuft das auf die Feststellung hinaus, ob etwas knapp ist oder nicht, sei­ ­immer relativ?

Markus Tauschek Nein, so radikal meine ich das nicht. ­Tatsächlich gibt es Zustände von Knappheit, die man nicht wegdekonstruieren kann. Viele Menschen erleben Knappheit ganz konkret, das gilt gerade jetzt wieder. Es wäre zynisch, diesen Menschen erklären zu wollen, dass Knappheit nur eine Frage der Perspektive sei.


Was zeigt denn ein kulturhistorischer Blick?

Der kann uns helfen, die Kontexte von Knappheit besser zu verstehen. Es gibt viele historische Beispiele von Waren, deren Knappheit sich erst durch den Bedarf ergibt. Auch bei Gold wurde diese Knappheit erst allmählich «hergestellt», weil das Metall immer begehrter wurde. Oder nehmen wir ein aktuelleres Beispiel, die seltenen Erden – die sind zwar, wie es der Name schon sagt, nicht in grossen Mengen verfügbar, aber knapp im eigentlichen Sinn sind sie erst, seit wir sie zur Herstellung von elektronischen Bauteilen benötigen.


In Ihrem Vorwort schreiben Sie, Vorstellungen von Knappheit oder Begrenztheit seien «das Ergebnis komplexer, von Macht­verhältnissen durchzogener Aushandlungsprozesse». Wie meinen Sie das genau? Was wird da von wem ausgehandelt?

Ein gutes Beispiel ist vielleicht der öffentliche Raum in unseren Innenstädten. Der wird ja von vielen Menschen als knappes Gut verstanden, weil wir nicht alle gleichermassen darüber verfügen können. Er ist aber unter anderem nur deshalb knapp, weil viele Städte nach wie vor den Individualverkehr privilegieren und weil viel Raum für parkende Autos genutzt wird. Wir beobachten da ja gerade ein langsames Umdenken, eine Neugestaltung des städtischen Zusammenlebens. Wenn neue Nutzungsarten eingeführt werden, wird dann eben umgekehrt der Parkraum knapp. Wessen Bedürfnisse dabei gehört werden, ist das Ergebnis zum Teil konfliktreicher, immer aber machtvoller Aushandlungsprozesse.


Sie stellen die Idee Knappheit ja ohnehin immer in einen grösseren Zusammenhang. Auch die Vorstellung von «Nachhaltigkeit» ist damit eng gekoppelt?

Ja, die Vorstellung eines nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen gibt es ja gar noch nicht so lange. Und es ist ein Konzept, das mit unserer westlichen Vorstellungswelt verbunden ist, mit unserer Art des ökonomischen Denkens. Es auf andere Kulturen überzustülpen, kann problematisch sein.


Zum Beispiel?

Ich erinnere mich an einen Dokumentarfilm auf Arte über die Insel Sokotra im nordwestlichen Indischen Ozean. Der Film zeigt Praktiken der Subsistenzwirtschaft, die sich über lange Zeiträume entwickelt haben, in der Reaktion auf Klimabedingungen oder auf das Vorkommen überlebensnotwendiger Rohstoffe – etwa Salz, das die Fischer gewinnen und bei den Ziegen­hirten gegen Butterschmalz eintauschen. Der Film zeigt, wie die lokalen Fischer die alte Regel, vier Tage vor und vier Tage nach Vollmond nur mit Haken zu fischen, um die Schwärme nicht zu vertreiben, kaum noch einhalten können, weil die Konkurrenz moderner Fischereimethoden wächst. Indem die Filmemacher solche Praktiken heute als nachhaltig und ressourcenschonend bezeichnen, übertragen sie ein westlich-europäisches Konzept auf einen davon historisch zu unterscheidenden kulturellen Kontext. Dieses Konzept ist zudem immens ideologisch aufgeladen.


Sie würden diese traditionelle Lebensweise nicht als «nachhaltig» bezeichnen?

Man kann mir an dieser Stelle vielleicht ein wenig Begriffsfetischismus vorwerfen, aber ich glaube tatsächlich, dass der Begriff nicht taugt. Ich würde sagen, auf Sokotra ist ein Erfahrungswissen vorhanden, wie die Lebensgrundlagen so bewirtschaftet werden müssen, dass sie erhalten bleiben. Wir bezeichnen das heute als nachhaltig. Ob die lokale Bevölkerung auf Sokotra je eine Vorstellung von «Knappheit» hatte, wie sie unsere ökonomischen Diskurse heute beherrscht, müsste man erst einmal noch genauer untersuchen.


«Knappheit» oder «Nachhaltigkeit» können also auch Chiffren sein?

Ja, ich denke es lohnt sich, über die Art und Weise nachzudenken, wie wir über Knappheit sprechen – und über die Art, wie der Begriff auch instrumentalisiert wird. Wir sollten aus kulturwissenschaftlicher Sicht jedenfalls einmal ganz genau hinschauen, wie unsere Vorstellungen von Knappheit entstehen. Und natürlich auch: welche Rolle der Begriff in der Politik spielt.


Gern noch ein konkretes Beispiel dazu.

Man kann das ganz gut am Beispiel des Fachkräftemangels zeigen. Auch hier gilt, dass man es nicht wegdiskutieren kann, wenn der Bäcker um die Ecke am Freitag geschlossen hat, weil er keine Verkäufer oder Verkäuferinnen mehr findet. Die Machtverhältnisse und Aushandlungsprozesse sieht man dann aber, wenn es darum geht, etwa im politischen Feld die Ursachen dafür zu benennen oder Lösungen zu finden. In Deutschland findet diese Debatte ja gerade auch im Kontext des Migrationsdiskurses statt. Um Macht geht es auch, wenn etwa im öffentlichen Diskurs aus meiner Sicht nur selten über Arbeitsbedingungen gesprochen wird, die ja auch eine von vielen Ursachen sind, warum in bestimmten Berufsfeldern kaum noch Menschen arbeiten möchten. Knappheit ist also immer auch eingebettet in bestimmte politische oder wirtschaftliche Diskurse. Wenn Läden geschlossen werden, weil das Personal fehlt, fragt in der Politik kaum jemand, ob diese Menschen vielleicht zu wenig verdienen oder die Arbeitsbedingungen zu schlecht sind. Wie diese Diagnose des «Mangels» in Politik übersetzt wird, widerspiegelt letztlich normative Vorstellungen der Gesellschaft.


Übrigens, wo wir schon genau hinschauen, sprachlich: Wo verläuft eigentlich die ­Begriffsgrenze zwischen Mangel und Knappheit?

Beide Begriffe sind sicherlich eng miteinander verwandt: Es geht immer um Ressourcen, die als begrenzt gelten – saubere Luft, Erdgas und so weiter. Kulturwissenschaftlich ist dabei relevant, dass es hier immer um globale Ungleichheit geht. Denn in den ­sogenannten westlichen Industrienationen sind wir mit ganz anderen Knappheiten und Mangelsituationen konfrontiert als in Ländern des globalen Südens. Und auch lebensweltlich gibt es hier ja enorme Unter­schiede. Knappheit und Mangel haben immer auch mit Klassendifferenzen zu tun.


Eines ist sicher: Die Begriffe haben in der ­gesellschaftlichen und politischen Debatte ­derzeit Konjunktur. Es ist ja eigentlich seltsam: Wir leben in einer Zeit des Überflusses, aber man hat dennoch das Gefühl, dass wir vor ­allem in Kategorien der Knappheit denken und sprechen. Zeit ist knapp, Roh­stoffe werden knapp, das CO2-Budget der Erde geht zur Neige.

Auch wenn der Begriff Konjunktur hat – ich wäre auf ­jeden Fall dennoch vorsichtig, das jetzige zu einem Zeitalter der Knappheit auszurufen. Ich würde sagen: Beides ist irgendwie richtig. Dass wir in einer Über­flussgesellschaft leben, trifft zwar zu, aber eben auch nur für Teile der Gesellschaft.


Haben Sie eine Erklärung für dieses Durcheinander?

Das hat auf jeden Fall mit der aktuellen Situation der Vielfachkrisen zu tun. Die Menschen erfahren diese ganz konkret in ihrer eigenen Lebensrealität. Und zwar einerseits im Hinblick auf Dinge, die zur Neige gehen, und andererseits als Forderung, weniger zu konsumieren, den Überfluss zu bremsen. Wir befinden uns nun einmal im Anthropozän: der geologischen Ära, in der sich der prägende Einfluss der Menschen auf die Erde zu zeigen beginnt. Die Klimakrise lässt sich nicht mehr wegdiskutieren, wenn wir konstant vor Augen geführt bekommen, wie zum Beispiel Bäche austrocknen.


Wobei gerade der Klimawandel ja nicht direkt an eine Vorstellung von Knappheit gebunden ist?

Indirekt schon, würde ich sagen: nämlich durch das Bewusstsein, dass unser übermässiger Konsum auf Kosten anderer geht.


Mit anderen Worten: Wir haben es hier ­eigentlich mit Verteilungsfragen zu tun.

Auf jeden Fall. Es geht ja ganz allgemein darum, dass wir in den Ländern des globalen Nordens unseren ­Lebensstil ändern müssen. Und damit verbunden ist immer die Frage, wie wir Ressourcen am gerechtesten verteilen. All diese Fragen sind in hohem Masse politisch.


Nochmals einen Blick zurück: Die Vorstellung gibt es ja schon lange, dass es über kurz oder lang eng wird mit den Ressourcen, das wurde ja schon mit Malthus gross und seiner Diagnose, dass die Ressourcen mit dem Be­völkerungswachstum nicht Schritt halten können. Haben wir es hier vielleicht mit einer menschlichen Ur-Erfahrung zu tun: der Angst, dass es bald nicht mehr reicht?

Dieser Idee mag ich mich als Kulturwissenschaftler eher nicht anschliessen – als gäbe es so etwas wie anthropologische Konstanten. Das wäre ein zutiefst ahistorisches Denken, und es würde dem Menschen letztlich auch die Fähigkeit absprechen, Dinge neu einzuordnen und auf eine Transformation hinzuwirken.


Sie glauben also an diese Transformation, an einen Ausweg aus der Knappheitsspirale?

Das würde ich mir wünschen, aber mein kulturwissenschaftlicher Hintergrund macht mich da auch ein wenig pessimistisch. Ich weiss nun mal: Strukturen haben unheimliche Beharrungskräfte. Wir tun uns schwer, Dinge anders zu denken und damit zu ändern.


Und mit Strukturen meinen Sie: das kapitalistische Wirtschaftssystem?

Ja. Ich halte es für gar nicht so abwegig, vom Kapitalo­zän statt vom Anthropozän zu sprechen, wie es auch schon vorgeschlagen wurde. Und in dem könnten wir durchaus noch eine Weile verharren.


Foto: zvg
Der Ethnologe und Volkskundler Markus Tauschek ist Professor für Europäische Ethnologie am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Freiburg im Breisgau. Zu seinen Forschungs­schwerpunkten zählen die populäre Kultur sowie die Traditionskultur in der Spätmoderne, Wettbewerb und Konkurrenz (Leistungs- und Erfolgs­diskurse, Optimierungsprak­tiken) und die politische Anthropologie (Energiewende, Kulturpolitik).

Artikel ausdrucken