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12.06.2024 von Roland Fischer

Eine Velolampe von Temu

«Made in China» kauft man heute ja sehr oft. Seit den neuen Konsum-Apps wie Temu stellt sich allerdings die Frage, welche Handelswege transparenter sind: die über einen Grossisten in der Schweiz oder die direkt über die App? Eine Probe aufs Exempel.

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Illustration: Claudine Etter

Ich habe auf Temu eingekauft. Dort gibt es eigentlich nichts, was es sonstwo nicht auch gäbe, aber es gibt all das in noch viel grösserer Auswahl und vor allem: viel billiger. Die Produkte kommen direkt vom Produzenten in China, deshalb fallen alle möglichen Zwischenhändler weg, die an den billigen Waren aus China mitverdienen – so die simple Erzählung. Aber stimmt das auch? Ich mache den Versuch mit einem Konsumgegenstand aus aktuellem Bedürfnis: einer Velolampe. Zum Vergleich kaufe ich dasselbe auch in der Migros.

In Deutschland soll jeder Vierte zwischen 16 und 65 Jahren bereits bei Temu eingekauft haben, obwohl die App da wie in der Schweiz erst im Frühjahr 2023 an den Start gegangen ist. Das Phänomen Temu hat so viel Aufmerksamkeit generiert und markiert im Werbemarkt eine solche Präsenz, dass manch ein Analyst sogar geschätzt hat, dass über die Plattform, die man sowohl als App installieren wie auch im Browser aufrufen kann, inzwischen mehr Waren verkauft werden als beim US-Giganten Amazon. Das ist wohl weit übertrieben, wie wir noch sehen werden. Dennoch bekommen die Schweizer Händler das Phänomen zu spüren. Besonders unter Druck stünden die Segmente Multimedia, Medien, Bürowaren, Baubedarf sowie Uhren und Schmuck, fand der Branchenverband Swiss Retail Federation nach einer Auswertung der Debit- und Kreditkartentransaktionen des ersten Quartals 2024 heraus.

Temu vs. Migros

Aber man kann natürlich auch einfach wie gehabt in die Migros, MMM Claramarkt, Veloabteilung. Das Sortiment ist gediegen, ein gutes Dutzend verschiedener Frontleuchten stehen zur Auswahl, wer will kann hier auch gegen 60 Franken für Luxusvarianten ausgeben. Ich suche eher ein Budgetprodukt und entscheide mich für eine LED-Akkuscheinwerfer der Marke Crosswave, «made in China», versteht sich. Preis: 17.90 Franken. Zuhause mache ich eine Google-Bildersuche und versuche exakt dasselbe Velolicht auf der Online-Handelsbörse zu finden. Fehlanzeige. Was ja auch nicht verwundert, warum sollte der Produzent so blöd sein, mit seiner Ware zu Dumpingpreisen Online-Marktplätze zu fluten, wenn er einen guten Deal mit der Migros (und eventuell noch mit weiteren Retailern) hat.

Was mir auffällt: die Lampen auf Temu sind gar nicht extrem viel billiger als im Laden. Viele ähnliche, wiederaufladbare Produkte kosten auch über 10 Franken. Eine immerhin bekommt man für einen Drittel des Migros-Preises, also ab in den Warenkorb: Hochwertiges Wiederaufladbares USB-Fahrradscheinwerfer, LED-Frontlicht Fürs Radfahren, Mountainbike-Lampen. «Blitzdeal!» Steht da noch, und: «Zeitlich begrenztes Angebot» und vor allem: «Gratisversand für dich». Das ist ja nett.«Lieferung: 5–13 Werktage, 77.5% sind ≤ 8 Werktage. Erhalte eine Gutschrift von CHF5.00 für die verspätete Lieferung». Werden wir ja sehen. Angeboten wird die Lampe von einem Händler namens «Locmax», der noch vier weitere Produkte im Angebot hat, alles aus dem Fahrradsortiment. Sonst erfährt man auf der Temu-Webseite nichts Genaueres über die Firma, das zum Download angebotene Produkthandbuch bietet auch wenig mehr an Detailinformationen, googeln hilft ebenso wenig. Aber egal, Kreditkarteninformationen angegeben, Bestellung abgeschickt. Man hätte sogar mit Twint bezahlen können.

Das war bequem. In der Migros hätte ich eine persönliche Beratung bekommen, ausserdem konnte ich das Produkt in Augenschein nehmen (wenn auch nicht ausprobieren) – ansonsten aber fühlte sich der Gang ins Warenhaus eher umständlich an. Das Migros-Produkt hätte ich zum selben Preis auch einfach über Galaxus bestellen können. Bleibt als einziger grosser Vorteil des Ladens eigentlich nur, dass ich die Lampe nach dem Kauf auch gleich in den Händen halte, falls ich sie sofort brauche. Beziehungsweise dass ich sicher sein kann, für mein Geld auch wirklich etwas zu bekommen.

Lieferung per Luftfracht

Temu gibt sich allerdings auch alle Mühe, mir ein gutes Gefühl zu geben. Der Versand lässt sich tracken, schon Minuten nach dem Bestellvorgang heisst es, die Ware habe die Reise angetreten, alle weiteren Schritte werden akribisch aufgelistet, von Versandzentrum zu Versandzentrum. Nur rund eine Woche bis in die Schweiz? Das geht natürlich ausschliesslich per Luftfracht. Man versündigt sich, wenn man bei Temu und Konsorten kauft, also ziemlich direkt am Klima. Fast täglich landen zwei Frachtmaschinen vollbepackt mit Kleidern, Haushaltswaren oder Spielzeug am Flughafen Zürich oder Genf. Aber wer sind die Firmen? Lange dominierte Aliexpress den Versandmarkt aus China. Temu ist eine relativ junge Firma, hervorgegangen aus Pinduoduo, einer Gaming- und Konsumplattform, gegründet vom Ex-Googler Colin Huang. Glich das Einkaufen auf Aliexpress lange ein wenig einem abenteuerlichen Besuch auf einem riesigen Basar, so setzte Temu von Anfang an auf eine gestylte Oberfläche, wie man sie sich im Westen von Online-Shops gewöhnt ist. Dazu kommt die starke Ausrichtung auf die Temu-App, über die wohl noch einiges mehr an Daten zum Konsumverhalten gesammelt und ausgewertet werden können als über die Internet-Plattform. Die App pflegt – sagen wir es mal so – ein entspanntes Verhältnis zu Social-Media-Apps wie Instagram, viele Käufe kommen via Werbung oder Influencer zustande. So folgen vor allem junge Menschen oft Kaufanreizen, die gar keinem Bedürfnis entsprechen. Wobei, war das nicht immer schon die Aufgabe der Werbung, uns zu einem Kauf zu verführen, den wir im Grunde gar nicht hätten tätigen wollen?

Nach drei Tagen ist mein Veloscheinwerfer bereit zum Übersee-Versand, er wartet irgendwo in einem Verteilzentrum in China, zusammen wohl mit Tausenden und Abertausenden weiteren Paketen. Wie viele Waren über Temu wirklich verkauft werden, ist eines der grossen Geheimnisse, die sich um die junge Firma ranken. Eine „Financial Times“-Recherche des Journalisten (und Aufdeckers des Wirecard-Skandals) Dan McCrum machte unlängst klar, wie viel da verschleiert wird. Es ist jedenfalls sehr wahrscheinlich, dass Temu wesentlich kleiner als Amazon ist. Schätzungen zufolge liefert die Plattform rund eine Million Pakete pro Tag in die USA, also wohl rund 300 Millionen pro Jahr. Der Warenwert pro Paket wird von Experten auf 30 bis 50 Dollar geschätzt. Selbst wenn man dabei 50 Dollar Warenwert annimmt, kommt man nur auf einen Bruttowarenwert von 15 Milliarden Dollar in den USA. Amazon dagegen weist einen Jahresumsatz von unglaublichen 575 Milliarden US-Dollar aus – weltweit.

Transperante Lieferketten?

Inzwischen habe ich auch die Migros-Medienstelle angeschrieben, ich möchte gern mehr über Produkt und Produzenten wissen. Wie sieht es mit der Nachvollziehbarkeit aus? Zunächst kommt nur ein allgemeiner Link auf eine Webseite in klassischer Schönfärberei-Manier «Transparenz für dich und uns». Transparente Lieferketten seien für die Migros eine Voraussetzung, um in Bezug auf die Ökologie und soziale Standards laufend Fortschritte zu machen, steht da. Darum «sind wir bestrebt, die Rückverfolgbarkeit laufend auszuweiten und dir dabei Folgendes ersichtlich zu machen: Woher stammen die Produkte? Wir prüfen unsere Produkte auf soziale, ökologische und Qualitätsstandards bis zurück zum Anbau oder zur letzten Verarbeitungsstufe. Wie und unter welchen Bedingungen werden die Produkte produziert?» Meine Velolampe ist damit allerdings nicht gemeint, die Transparenz-Initiative konzentriert sich derzeit vor allem auf Lebensmittel. Immerhin gibt es eine spannende interaktive Karte zu Migros-Eigenmarken aus den Sortimenten Bekleidung und Haushalt «mit Fokus auf kritische Herkunftsländer». Da lässt sich tatsächlich bis auf einzelne Produktionsbetriebe hineinzoomen – eine Suchfunktion gibt es allerdings nicht. Also finde ich auf diesem Weg auch nicht heraus, wo meine Velolampe herkommt.

Unlängst brachte die Schweiz am Sonntag eine Schätzung, wie gross das Stück ist, dass sich Temu vom Schweizer Online-Umsatz abschneidet, basierend auf einer Studie des Beratungsunternehmens Carpathia. Diese geht davon aus, dass die chinesische Plattform letztes Jahr rund 350 Millionen Franken in der Schweiz umsetzte. Der tatsächliche Schaden sei allerdings wesentlich grösser, denn indem inzwischen viele nicht mehr in der Migros oder bei Galaxus kaufen, setzt das die Preise bei den alteingesessenen Unternehmen unter Druck: Das Beratungsunternehmen schätzt, dass Digitec Galaxus, Brack und Co. wegen Temu jährlich zwischen 1 und 1,75 Milliarden Franken weniger umsetzen.

Kostspieliges Geschäftsmodell

Wiederum zwei Tage später ist meine Velolampe in der Verzollung angekommen. Der Schweiz am Sonntag zufolge kämpft der Schweizer Zoll inzwischen mit einer wahren «chinesischen Päckli-Flut». Wie viele Temu-Sendungen pro Woche ankommen, könne das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit nicht sagen, die Anzahl habe aber insbesondere aus China stark zugenommen. «Dabei ist die Menge der Pakete aus China eine Herausforderung sowie teils auch die unklare respektive sehr allgemeine Warenbezeichnung.» Wäre eigentlich Zoll fällig auf ein solches Produkt? Das frage ich mich rasch und es wird sich zeigen, dass mein Paket einfach durchgewunken wurde. Was aber auf jeden Fall fällig würde, wäre ein Porto. Spätestens in der Schweiz, wo die Temu-Pakete zu einem guten Teil von der Post verteilt werden. Carpathia-Experten David Morant sagte in der Schweiz am Sonntag, Temu lege «bei jedem Schweizer Paket Geld drauf». Der Marktplatz streiche bloss eine kleine Kommission für jede Bestellung ein, auch hier fischt man im Trüben, was die konkreten Beträge angeht. Morant geht von etwa 1 Franken aus bei einem Warenwert von 20 Franken. «Dies genügt aber bei weitem nicht, um alleine die in der Schweiz anfallenden Versandkosten zu decken.» Welche Strategie sich hinter diesem Verlustgeschäft verbirgt? Auch hier wieder liest man viel Unklares, aber es dürfte derzeit wohl darum gehen, auf möglichst aggressive Art Marktanteile zu gewinnen, sprichwörtlich: Koste es was es wolle. Wie lange diese Strategie aufgeht, ist letztlich eine grosse Wette. Ist womöglich der Peak schon erreicht? Laut dem deutschen Manager-Magazin spricht nicht nur vieles dafür, dass Temu wesentlich kleiner als Amazon ist, sondern dass der Hype auch schon wieder abflaut. Die Zahl der monatlich aktiven Nutzerinnen und Nutzer von Temu in den USA schrumpfe seit dem dritten Quartal 2023 tatsächlich schon wieder.

Überforderte Schweizer Behörden

Die Migros-Medienstelle meldet sich dann noch einmal, nach mehrmaligem Nachhaken. Sie schreibt, «diese Information [zum Produzenten der Velolampe] steht der Kommunikation nicht zur Verfügung». Weiter wird es ein wenig gehässig, die beiden Produkte «zu vergleichen ist Unsinn, denn ihre Funktionen, Materialien und Ausführungen sind unterschiedlich.» Die Migros-Kommunikation schliesst mit der an sich berechtigten Frage, ob das online gekaufte Produkt überhaupt für die Schweiz zugelassen sei? Gegenfrage: Woher soll ich das wissen? Und vor allem: als ob das irgend jemand kümmern würde, der auf Temu auf «bestellen» klickt. Die Schweizer Behörden jedenfalls sind mit dem Phänomen derzeit ziemlich überfordert – wie sollte man diese vielen neuen Importwege denn auch lückenlos kontrollieren?

Temu hatte ich natürlich auch eine entsprechende Nachricht geschrieben, aber es war nicht ganz klar, wohin ich die überhaupt schicken soll. Der Kundendienst ist ganz auf Reklamationen und Retouren ausgerichtet. Als Antwort bekam ich – wenig überraschend – nur ein automatisiertes Mail ohne hilfreiche Informationen. Aber was will ich schon meckern: Genau 8 Tage nach der Bestellung liegt ein helles Plastiksäckchen mit ungewohnter Etikette im Briefkasten. Darin eine gar nicht mal so «billig» daherkommende Kartonverpackung, kaum zerdellt. Diese lässt nicht wirklich Rückschlüsse auf die Herkunft des Inhalts zu: Recharcheable Bicycle Lamp steht darauf. Und irgendwo hinten: «Made in China», das ist alles. Leuchtet tadellos, das Ding, wiederaufladbar ist es auch ohne Probleme. Zumindest noch.

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