Die vielen Krisen, wie die Pandemie und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, haben gezeigt, wie verletzlich die globalen Lieferketten teilweise sind. Deshalb gibt es nach Jahrzehnten der Globalisierung in jüngster Zeit vermehrt Bemühungen, Produkte wieder in den Industrienationen selbst herzustellen. Wie weit fortgeschritten diese De-Globalisierung ist und was sie für die weltweite Gerechtigkeit bedeutet, erklärt Andreas Missbach von Alliance Sud.
Andreas Missbach, Sie befassen sich seit über 30 Jahren mit globaler Gerechtigkeit. Wie hat sich die Welt in dieser Zeit verändert: Ist sie gerechter oder ungerechter geworden?
Eher gerechter. Die Unterschiede zwischen ärmeren und reicheren Ländern sind kleiner geworden, die Armut hat abgenommen. Allerdings geht der überwiegende Teil dieser Entwicklung auf China zurück. Das Land erlebte in dieser Zeit einen rasanten Aufschwung, erlangte eine völlig neue Stellung in der Weltwirtschaft und konnte die Armut im Land selbst sehr deutlich reduzieren. Auch andere Länder profitierten von diesem Aufschwung Chinas.
Ist diese Entwicklung Chinas eine Folge der zunehmenden Globalisierung der letzten Jahrzehnte?
Das kommt darauf an, wie man Globalisierung definiert. Die globalisierungskritische Bewegung verstand darunter immer das Programm des Ultraliberalismus, nämlich: Liberalisierung, Deregulierung, freier Kapitalverkehr, Abbau von Handelsschranken und Zöllen und so weiter. Andere wiederum verstanden unter Globalisierung die reale Zunahme der internationalen Verflechtungen, also das reale Wachstum des Handels. Wenn man Letzteres nimmt, ist klar: Ja, deswegen hat die Armut in China abgenommen, der Aussenhandel war ein wichtiger Teil des chinesischen Wachstumsmodells. Zugleich hatte China Erfolg, weil es eben gerade nicht die Rezepte der Globalisierer anwendete.
Wie meinen Sie das?
China ging bei der Liberalisierung sehr selektiv vor. Es hat beispielsweise nie den Kapitalverkehr liberalisiert und stets gesteuert, wo multinationale Unternehmen sich innerhalb der chinesischen Wirtschaft breitmachen konnten. Auch hat China staatliche Betriebe, die eine regionale Entwicklungspolitik umsetzen können.
Hat die Armut im selben Zeitraum auch in anderen Ländern abgenommen?
Ja, das ist so. Zugleich nahm aber in manchen Ländern, beispielsweise in Lateinamerika, die Armut wieder zu. Diese Länder rutschten zunehmend zurück in die Rolle von reinen Rohstoffproduzenten und de-industrialisierten sich, und mit den sinkenden Rohstoffpreisen verloren sie die Fähigkeit, Armut zu bekämpfen. Weiter gibt es verschiedene Länder in Afrika, die mehr oder weniger abgehängt sind. Ihre Entwicklung stagniert, die sozialen Indikatoren gehen zurück und die Armut steigt.
Inwiefern hängen diese negativen Entwicklungen mit der Globalisierung zusammen?
Es sind eben jene Länder zurückgefallen, die die Rezepte der Globalisierer einfach so übernahmen. Liberalisierung und Öffnung führten hier dazu, dass die einheimischen Industrien von der billigen, internationalen Konkurrenz überrollt wurden. Übrig blieb das, was der Weltmarkt unbedingt wollte: die Gewinnung von Rohstoffen – mineralischen oder, wie im Fall Brasiliens, der sehr dramatisch ist, Agrarrohstoffen. Das kann zwar zu einem gewissen Wachstum führen, aber es ist ausschliessend. Es profitieren nur sehr wenige Leute davon, allen voran die Grossgrundbesitzer.
In jüngster Zeit haben die Corona-Pandemie und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine gezeigt, wie verletzlich die globalen Lieferketten sind. Glauben Sie, dass nun eine Phase der De-Globalisierung und Re-Lokalisierung der Güterproduktion beginnt?
Der Trend zum Reshoring oder Friendshoring – also die Produktionsverlagerung zurück in die Industrienationen oder in Länder, die dieselben Werte teilen – findet im Moment noch sehr stark auf der Ebene von Diskursen statt. Die Auswirkungen sind noch nicht wirklich sichtbar. Mit einer Ausnahme: Die USA unterstützen die heimische Produktion von Komponenten für die Elektrifizierung des Verkehrssystems, Solarpanels oder Chips mit sehr starken Subventionsprogrammen. Dies hat zur Folge, dass in den USA investiert wird und dort Güter produziert werden, die vorher andernorts hergestellt wurden. Das führt natürlich zu einer De-Globalisierung der Handelsströme, aber in grossem Ausmass findet sie noch nicht statt. Die Firmen machen sich aber sehr starke Gedanken darüber, wie resilient ihre Lieferketten sind.
Um gewappnet zu sein für künftige geopolitische Krisen?
Genau. So heisst es im Zusammenhang mit deutschen Konzernen, für die China absolut zentral ist und die auch weiterhin dort investieren wollen, sie bräuchten «Sollbruchstellen». Das bedeutet, dass sie im Krisenfall in der Lage sein müssen, ihr China-Geschäft abzuspalten und als Konzern mit dem Rest weiter zu operieren. Wenn beispielsweise China Taiwan angreifen würde, dann wäre ein Konzern, bei dem plötzlich 40 Prozent des Geschäfts wegbricht, ohne entsprechende Vorbereitung natürlich in einer sehr schwierigen Situation.
Es gibt aber auch Firmen – etwa in der Textil- und Bekleidungsindustrie –, die aus anderen Gründen ihre Produktion zurück nach Europa verlagern, beispielsweise weil es nachhaltiger ist, lokal zu produzieren.
Ja, punktuell sieht man solche Verlagerungen, wenn eine nahe Produktion nachhaltiger, schneller oder auch günstiger ist. Und es gibt Branchen, die das schneller als andere tun können. Dazu gehört die Bekleidungsindustrie, die relativ schnell Fabriken aufbauen oder verlagern kann. Aber im grossen Stil sieht man noch nicht, dass jetzt massiv Lieferketten gekürzt oder vereinfacht würden.
Erwarten Sie eine solche Entwicklung?
Kurzfristig sicher nicht, das ist gar nicht möglich. Im Moment erleben wir ja eine enorme Beschleunigung bei der Umstellung auf erneuerbare Energien. Aber 90 Prozent der Solarzellen weltweit werden in China produziert. Das heisst, kurzfristig kann es gar keine De-Globalisierung geben, wenn man gleichzeitig die Dekarbonisierung will. Denn woher sollen sonst all die Solarpanels und Batterien kommen? Die günstigen chinesischen Elektroautos kommen ja gerade erst auf den Markt. Es gibt natürlich Leute innerhalb der EU, die darüber sehr beunruhigt sind. Es wird deshalb wohl zunehmend auch Programme geben, damit mehr in Europa produziert werden kann.
Was bedeuten diese grossen wirtschaftlichen Umstellungen – die Dekarbonisierung und die politisch erwünschten Produktionsverlagerungen in die USA und nach Europa – für die meist ärmeren, rohstoffproduzierenden Staaten? Braucht es da politische Massnahmen, damit die globale Ungleichheit nicht weiter zunimmt?
Bei den Rohstoffländern muss zwischen fossilen Rohstoffen und Rohstoffen des Batteriezeitalters wie Lithium unterschieden werden. Es braucht bei beiden eigentlich eine starke politische Gestaltung auf nationaler und internationaler Ebene, damit die Ungleichheit nicht massiv zunimmt. Bei den neuen Rohstoffen muss man möglichst verhindern, dass nicht dasselbe passiert, wie in vielen erdölfördernden Ländern geschah: dass nur eine kleine Gruppe von Leuten profitiert, nicht aber die breite Bevölkerung. Auch muss die internationale Gemeinschaft jene Länder unterstützen, die heute noch viele fossile Brennstoffe produzieren und das mittelfristig nicht mehr können, weil man die nicht mehr aus dem Boden holen darf. In Afrika gibt es etwa ein Dutzend «least developed countries», also die ärmsten Länder, die hochgradig erdölabhängig sind. Zwar hat das Erdöl der Bevölkerung nicht wahnsinnig viel gebracht, aber wenn es nicht mehr da ist, hat die nationale Wirtschaft praktisch keine Einnahmen mehr. Da braucht es Entwicklungszusammenarbeit, um diesen Ländern zu helfen, ein anderes Wirtschaftsmodell aufzubauen.
Gibt es denn seitens der internationalen Gemeinschaft Bemühungen dazu, diese Länder zu unterstützen?
Noch nicht. Aber bei der UNO startet jetzt langsam der Diskurs dazu.
Wie kann denn die Schweiz gegen globale Ungleichheit vorgehen? Wo hat sie den grössten Hebel?
Wo der grösste ist, ist schwer zu sagen, es muss an allen Ecken passieren. Beispielsweise ist die Schweiz nach wie vor eine Steueroase für Unternehmensgewinne. Es gibt Schätzungen, dass etwa 40 Prozent des Unternehmenssteuer-Substrats eigentlich nicht der Schweiz gehört. Darauf muss die Schweiz verzichten; denn es verhindert, dass andere Länder, gerade auch Entwicklungsländer, jene finanziellen Mittel haben, die ihnen eigentlich zustehen. Mittel, die sie auch brauchen, um in die Armutsbekämpfung, den Sozialstaat, ländliche Entwicklung oder anderes zu investieren. Hier schafft die Schweiz aktiv Ungleichheit, und es ist ganz wichtig, dass sie das verändert.
Und welches wären weitere, wichtige Massnahmen?
Einen bedeutenden Effekt hätte eine bessere Regulierung des Schweizer Rohstoffhandels. Die grössten Schweizer Rohstoffhandelsfirmen wurden in den letzten Jahren in Dutzenden von Fällen für korrupte Geschäfte in Entwicklungsländern verurteilt oder haben Schuldeingeständnisse gemacht. Auch eine Verkleinerung der UBS wäre wichtig: Denn die heutige UBS ist so gross, dass sie das globale Finanzsystem in Aufruhr versetzen kann – worunter in der Regel immer zuerst die ärmeren Länder leiden. Und als Letztes natürlich: mehr Geld für Entwicklungszusammenarbeit und die internationale Klimafinanzierung.
Reden wir noch über das neue Lieferkettengesetz der EU. Es ist sehr ähnlich wie die Schweizer Konzernverantwortungsinitiative, die im November 2020 am Ständemehr scheiterte. Kann ein solches Lieferkettengesetz für mehr Gerechtigkeit sorgen?
Ja, weil es Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen in den Lieferketten und in der eigenen Geschäftstätigkeit grosser Konzerne verhindern und für menschenwürdige Arbeitsbedingungen sorgen kann. Auch kann es verhindern, dass Rohstoff- und andere Konzerne in Entwicklungsländern grossflächig die Umwelt verschmutzen. Interessant ist, dass in der neuen EU-Regelung auch das Klimathema enthalten ist, indem sie von Konzernen glaubwürdige CO2-Absenkpfade verlangt.
Welche Konsequenzen hat das neue EU-Gesetz für die Schweiz?
Einerseits sind Schweizer Firmen, die eine wichtige Präsenz in der EU haben, direkt davon betroffen. Sie müssen Bericht erstatten, sind aber bei Regelverletzungen nicht von Sanktionen betroffen. Letztere greifen nur bei Konzernen, die in der EU ansässig sind. Aus diesem Grund ist für die Koalition für Konzernverantwortung klar, dass die Schweiz eine analoge Regelung braucht. Nur, ohne Druck wird das wahrscheinlich nicht geschehen. Deshalb braucht es eine zweite Volksinitiative.
Wie weit sind denn die Arbeiten daran?
Die Initiative ist mehr oder weniger bereit zur Lancierung.
Inwiefern unterscheidet sie sich von der ersten Konzernverantwortungsinitiative?
Sie ist sehr nahe bei der EU-Regelung. Im Vergleich zur ersten Initiative gibt es ein paar kleinere Anpassungen, aber die wichtigsten Punkte sind immer gleich. Und dann gibt es Neuerungen, beispielsweise beim Thema Klimaschutz.
Die heutige Welt ist stark geprägt von Ungleichheit, Krisen und Konflikten. Sehen Sie auch Hinweise auf positive Veränderungen? Was macht Ihnen Hoffnung, dass die Welt künftig gerechter wird?
Dass sich weltweit und auch in der Schweiz nach wie vor sehr viele Menschen für globale Gerechtigkeit einsetzen. So vieles ist jetzt im Umbruch: Wie soll die Weltwirtschaft künftig funktionieren? Welches Wohlstandsmodell soll gelten? Welche Form von sozialer Gerechtigkeit will man? Es ist ein gigantischer Suchprozess, der an ganz vielen Stellen passiert, wo sich Dinge verändern müssen, wo Dinge ausprobiert werden. Gewisses wird scheitern, anderes wird erfolgreich sein. All diese Menschen, die sich auf den verschiedensten Ebenen – von der EU-Kommission in Brüssel bis zu Graswurzel-Bewegungen in Brasilien – für Veränderungen einsetzen. Das ist es, was mir Hoffnung macht.
Katharina Wehrli arbeitet als freie Journalistin, Redaktorin und Lektorin in Zürich.
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