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22.09.2021 von Muriel Raemy

Genf kämpft gegen die «Uberisierung»

Als erster Kanton verpflichtet Genf Plattformunternehmen wie Uber dazu, ihre «scheinselbständigen» Taxifahrerinnen und Essenskuriere anzustellen. Doch Uber leistet Widerstand und will seine eigenen Spielregeln durchsetzen. Die Gewerkschaften krempeln die Ärmel hoch und eröffnen die Debatte auf nationaler Ebene.

Artikel in Thema Gig-Economy
Illustration: Claudine Etter
«Ich bin müde», sagt ein Fahrer, den ich während der Recherche für diesen Artikel in Genf traf. Er warte immer noch: «Es hat sich nichts geändert, ich habe immer noch keinen Vertrag. Die 25 Prozent, die Uber zurückbehält, sind viel zu viel. Die Arbeit ist ein Verlustgeschäft. Aber was kann ich schon tun?» Er wird auf den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts warten müssen, der dieses Jahr fallen soll. 
Ein Blick zurück auf eine mehrstufige Auseinandersetzung, die zunächst nur den Essenslieferdienst und später auch den Personenfahrdienst von Uber betraf: Im Juni 2019 zwangen die Genfer Behörden Uber Eats und seine Konkurrenten dazu, «sich an das Gesetz zu halten» und ihre selbständigen Kurierinnen und Kuriere anzustellen. Während die anderen Anbieter die Vorgaben akzeptierten, legte Uber Eats Rekurs ein. Im Juni 2020 unterlag das Unternehmen vor dem kantonalen Verwaltungsgericht und legte danach Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht ein. Im Dezember desselben Jahres verpflichtete der Kanton Genf Uber dazu, auch den Arbeitnehmerstatus seiner Taxifahrerinnen und -fahrer anzuerkennen. Doch auch dagegen leistete das US-amerikanische Unternehmen Widerstand.

Die Kosten tragen die Fahrerinnen und Fahrer

Die Frage, ob die Uber-Fahrerinnen und -Fahrer nun selbständig oder unselbständig seien, beschäftigt die Gewerkschaften seit den Anfängen des multinationalen Unternehmens aus San Francisco im Jahr 2009. «Sie sind ganz klar Angestellte. Ihr Status ist in unserer Gesetzgebung schon lange definiert», stellt Umberto Bandiera ohne Zögern klar; bis vor kurzem war er Gewerkschaftssekretär für Transport und Logistik bei Unia Genf. «Diese Plattformunternehmen behalten einen grossen Prozentsatz der Einnahmen für die Fahrten oder Kurierdienste ein. Doch alle Unterhaltskosten für das Auto oder Velo sowie die Sozialversicherungsbeiträge und weitere Auslagen gehen zulasten der Fahrerinnen und Fahrer. Diese müssen geschützt und diese Art von Unternehmen muss reglementiert werden – und zwar dringend!»
Bandiera übernahm das Dossier, als Uber 2014 anfing, Taxidienste in Genf anzubieten. In Zürich ist Uber seit 2013 auf dem Markt, in Basel seit 2014 und in Lausanne seit 2015. Das US-Unternehmen meldete Anfang 2021 mehr als 3000 aktive Fahrerinnen und Fahrer in der Schweiz. Diese Zahl scheint nicht riesig, doch das Bundesamt für Statistik (BfS) berechnete für das Jahr 2019, dass 0,1 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung über eine Plattform Taxidienstleistungen anbietet. Der prozentuale Anteil jener, die Kurierdienste erbringen, wird vom BfS nicht separat ausgewiesen; zusammen mit jenen Erwerbstätigen, die über eine Plattform weitere Dienstleistungen wie Programmierung, Hausarbeit oder Übersetzung erbringen, machen sie 0,3 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung aus. Für die Folgejahre stellte das BfS eine zunehmende Tendenz fest.

Juristischer Erfolg auch in Grossbritannien

Die Gewerkschaften wiesen schon früh auf die Mängel im System hin, die zu prekären Arbeitsbedingungen führen: zu tiefe Pauschalentlöhnung, unbezahlte Standzeiten, weder Sozialversicherungen noch bezahlte Ferien. Der Entscheid des Kantons Genf ist daher ein Meilenstein: «Wir haben bezüglich Art der Zusammenarbeit eine Schlacht gewonnen. Die Fahrerinnen und Fahrer sind jetzt als Angestellte anerkannt», so Martin Malinovski, Gewerkschaftssekretär bei der SIT, der interprofessionellen Gewerkschaft Genf.
Auch in Grossbritannien waren die neuen Arbeitsmodelle der Gig-Economy kürzlich Gegenstand eines Gerichtsurteils. Uber muss die 70 000 britischen Fahrerinnen und Fahrer nun als Angestellte behandeln. Sie haben ein Anrecht auf den Mindestlohn und bezahlte Ferien und können in die Pensionskasse einzahlen. Für die Unia und die SIT deckt sich dieses Urteil mit jenem des Kantons Genf und stellt klar, dass sich Uber und andere Plattformunternehmen den Gegebenheiten des Landes anpassen müssen, in dem sie tätig sind. Die Gewerkschaften sind überzeugt, dass es in der Schweiz auch auf nationaler Ebene früher oder später zu Änderungen kommt. 

Das Gesetz des Stärkeren

In der Zwischenzeit ist aus Sicht von Umberto Bandiera die Intervention der Kantone entscheidend. Doch diese haben unterschiedliche Sichtweisen, und der Bund ist mit der Regulierung der stark wachsenden Plattformwirtschaft ziemlich im Rückstand. «Dieser Ist-Zustand ist illegal. Er wird von unseren Behörden geduldet, der Staat kommt seiner Aufsichtspflicht nicht nach. In Bezug auf Genf bin ich nach wie vor optimistisch, doch im Rest der Schweiz passiert nichts», sagt Bandiera. 
In Genf haben die internationalen Unternehmen ihr Geschäftsmodell angepasst, um weiterhin im Kanton tätig sein zu dürfen. Doch wie sieht das in Tat und Wahrheit aus? Einige umgehen das Problem, indem sie die Fahrerinnen und Fahrer durch eine Drittfirma rekrutieren lassen. «Wir haben keinerlei Kontrolle. Die Kurierdienste gelten rechtlich als Personalverleih, und diese dürfen die Personalrekrutierung nicht an andere Gesellschaften outsourcen. Trotzdem wird es gemacht. Die Gesamtarbeitsverträge des Hotel- und Gastgewerbes, die auch die Lieferdienste regeln, werden zurzeit nicht eingehalten, der Mindestlohn erst recht nicht. Diese Unternehmen machen, was sie wollen!», ärgert sich Martin Malinovski. 

Arbeitsbedingungen wie im 19. Jahrhundert

Die Gewerkschaften prangern an, dass die neuen Plattformtechnologien den Unternehmen ermöglichen, Arbeitsbedingungen durchzusetzen, wie sie zur Zeit der ersten industriellen Revolution herrschten. Es sei unverständlich, sagt Umberto Bandiera, weshalb man diesen Unternehmen uneingeschränkt die Macht überlasse, undemokratische Spielregeln aufzustellen: «Wenn man die Unternehmen geschäften lässt, wie sie wollen, dann gibt es Marktverzerrungen. Wir beobachten eine starke Zunahme der Nachfrage nach Hauslieferungen. Es ist höchste Zeit, eine Tätigkeit, die von mehreren Tausend Menschen in der Schweiz ausgeübt wird, anständig zu regeln.» Der Druck steigt denn auch: Unternehmen wie Smood, Eat.ch und Updelivery machen Uber Eats Konkurrenz und sichern sich Anteile an diesem Markt, der dank der Pandemie ein starkes Wachstum verzeichnet. 
Neustes Beispiel: Die Migros ist mit der Firma Smood, an der sie seit 2019 beteiligt ist, eine Zusammenarbeit eingegangen. Smood verspricht eine Heimlieferung der Lebensmittel innerhalb von 45 Minuten ab Bestellung. Bei shop.migros.ch, dem Online-Shop der  Migros, sind es 24 Stunden. Die vom «orangen Riesen» für den eigenen Online-Shop beschäftigten Fahre­rinnen und Fahrer profitieren von denselben Anstellungsbedingungen wie alle Migros-Mitarbeitenden. Bei Smood hingegen sind die Bedingungen prekär.

Ein neues Kapitel im Kapitalismus

Laut Umberto Bandiera zahlen bei diesen Modellen ausser dem Plattformbetreiber alle Beteiligten einen höheren Preis: «Alle verlieren: die Kundinnen und Kunden, die einen höheren Endpreis zahlen; das Restaurant beziehungsweise der Geschäftspartner, dessen Marge vom Anbieter der Plattform aufgefressen wird; die Kurierfahrerinnen und -fahrer, die nach allen Abzügen einen Hungerlohn verdienen», klagt er an. 
Dennoch trifft diese Art von Tätigkeit auf eine echte Nachfrage seitens der Arbeitnehmenden. Bei einer Fahrt mit einem zweiten Uber-Fahrer in der Agglomeration Genf erzählt dieser, dass die über die App vermittelten Fahrten sein einziges Einkommen bilden. Er ist über den Druck, den Genf auf Uber ausübt, höchst verärgert, denn er hat kein Interesse daran, dass sich seine Arbeitsbedingungen verkomplizieren oder – schlimmer noch – dass er seine Dienste nicht mehr anbieten darf. «Die Personen, die mit den Plattformen zusammenarbeiten, sind Einzelkämpfer. Es ist schwierig, sie zu erreichen und sie dabei zu unterstützen, ihre Rechte einzufordern – oder ihnen nur schon aufzuzeigen, worauf sie sich eingelassen haben», stellt Bandiera fest. 
Für den Gewerkschafter stellt dieser arbeitsrechtliche Rückschritt – die «Uberisierung» – ein neues Kapitel im Kapitalismus dar. Und dieses ist noch nicht fertig geschrieben: Die starke Zunahme der Online-Plattformen und die Flexibilisierung der Arbeit werden nach und nach alle Formen der Beschäftigung und alle Berufe betreffen. «Das Signal, das von Genf ausgesendet wurde, muss gehört werden. Wir kämpfen für eine Zukunft der Arbeit, in der sich technischer Fortschritt und sozialer Schutz nicht gegenseitig ausschliessen, wie das heute der Fall ist.» 
Der Ball liegt nun definitiv beim Gesetzgeber.
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