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02.10.2024 von Katharina Wehrli

«Die meisten Technologien haben nicht weniger, sondern mehr Arbeit geschaffen»

Wie wird sich der Schweizer Arbeitsmarkt künftig entwickeln? Ein Gespräch mit dem Arbeitsmarktspezialisten Michael Siegenthaler von der ETH Zürich über Fachkräftemangel, Bevölkerungswachstum, Digitalisierung und die Frage, welche Auswirkungen KI auf einzelne Branchen und Berufe haben wird.

Artikel in Thema ARBEIT. ARBEIT?
Michael Siegenthaler leitet seit 2019 den Forschungsbereich Schweizer Arbeitsmarkt der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Er wurde im September 2014 zum Dr. sc. ETH promoviert und arbeitete danach als Arbeitsmarktspezialist an der KOF. Zuvor studierte er Volkswirtschaft und Geschichte an der Universität Bern. Er setzt sich im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit intensiv mit Fragen zum Schweizer Arbeitsmarkt auseinander. Seine Forschungsschwerpunkte sind die empirische Arbeitsmarkt- und Migrationsforschung.

moneta: Herr Siegenthaler, Sie sind Leiter des Forschungsbereich Schweizer Arbeitsmarkt bei der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH und befassen sich seit bald 15 Jahren mit Arbeitsmarktforschung. Lässt sich heute abschätzen, in welche Richtung sich der Schweizer Arbeitsmarkt künftig entwickeln wird?

Michael Siegenthaler: Der seit längerem bestehende Trend, dass sich die Schweiz zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickelt, wird sich ziemlich sicher fortsetzen. Es gibt Bereiche, die stark am Wachsen sind, beispielsweise das Gesundheits- und Sozialwesen oder die persönlichen Dienstleistungen. Es gibt viele Berufe, die man sich vor 50 Jahren noch gar nicht vorstellen konnte und in denen heute viele Personen beschäftigt sind.

Zum Beispiel?
Yoga-Lehrerinnen, Chiropraktiker, Cyber-Security-Spezialistinnen, Solarinstallateure, Hundetrainerinnen, auch alle Berufe rund um Social-Media- und Online-Dienstleistungen. Zudem hat die Schweiz ein Standbein in der Forschung und Entwicklung, Beratung sowie Information und Kommunikation. Da gibt’s ständig mehr Unternehmen und auch mehr Beschäftigte, und es ist relativ naheliegend, dass diese Bereiche auch weiterhin wachsen werden.

Warum?
Die Schweiz entwickelt sich zu einer Wissensgesellschaft. Immer mehr Leute machen eine höhere Bildung, die Zahl der Stellen in Fachhochschulen und Höheren Fachschulen hat sehr stark zugenommen. Dieser Trend wird weitergehen. Ein wichtiger Beschäftigungstreiber ist zudem das Bevölkerungswachstum, und man geht davon aus, dass sich dieses weiter fortsetzen wird. Wenn mehr Leute da sind, brauchen sie insbesondere mehr persönliche Dienstleistungen, aber auch mehr Strassen und Häuser, deshalb wächst auch die Beschäftigung beim Verkehr oder in der Bauwirtschaft. Und schliesslich wächst auch der ganze Bereich von Unterricht und Erziehung. Das hat zum Teil mit der externen Kinderbetreuung zu tun, aber auch mit der ständig längeren Ausbildungsphase.

Und wo gibt es weniger Stellen?
In der Schweiz gibt es nur sehr wenige Branchen, in denen die Beschäftigung in den letzten 20 Jahren stark zurückgegangen ist. Eine Schrumpfung erlebten primär die Landwirtschaft und gewisse Bereiche der Industrie. Zwar wächst die Schweizer Uhrenindustrie, ebenso die Nahrungsmittel- und die Pharmaindustrie, aber in anderen Industriezweigen ist die Beschäftigung in den letzten Jahren zurückgegangen; die Gründe dafür sind mitunter die Digitalisierung, Automatisierung und Verlagerungen von Tätigkeiten ins Ausland.

Insgesamt herrscht in der Schweiz heute ein Arbeitskräftemangel. Wird sich dieser künftig noch verstärken, weil die Boomer-Generation jetzt pensioniert wird?
Wir erlebten ja nach der Corona-Pandemie einen extremen Beschäftigungsaufbau in praktischen allen Branchen der Wirtschaft, und das weltweit. Seit Anfang 2021 wurden in der Schweiz über 360'000 zusätzliche Stellen geschaffen, also fast im Umfang der Bevölkerung der Stadt Zürich. Weil sich die Firmen gegenseitig die Beschäftigten abjagten, kam es zu einem historisch einzigartig starken Fachkräftemangel, der jetzt wieder etwas kleiner wird. Dazu kommt der strukturelle Ersatzbedarf aufgrund der Verrentung der Boomer-Generation: Die Lücke zwischen jenen, die aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, und jenen, die nachrücken, wird immer grösser und wird erst Ende dieses Jahrzehnts den Höhepunkt erreichen. Dies wird den Fachkräftemangel in den nächsten fünf bis zehn Jahren noch weiter befeuern – ausser die Schweiz erlebt, was wir nicht hoffen, eine längere Stagnations- oder Rezessionsphase. Dies ist aber aufgrund der Entwicklung in den letzten 30 Jahren nicht wahrscheinlich.

Was lässt sich gegen den Fachkräftemangel tun? Braucht es mehr Zuwanderung?
Das war bis jetzt die Hauptantwort der Schweiz. Wenn in der Vergangenheit 100'000 neue Stellen geschaffen wurden, dann wurden davon 65'000 bis 75'000 durch Zuwanderung bedient und der Rest durch eine bessere Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials.

Vor allem durch Frauen?
Ja, primär weil Frauen mehr Erwerbsarbeit leisteten, in erster Linie, weil sie nach der Mutterschaftspause früher und mit höheren Pensen zurückkehrten und im Alter mit höheren Pensen arbeiteten.

Entsteht da nicht ein anderes Problem? Wenn Frauen mehr Erwerbsarbeit leisten, muss ja die unbezahlte Haus- und Familienarbeit, die sie zuvor leisteten, von jemand anderem gemacht werden.
Genau. Das führt zu einem Personalbedarf bei der Betreuung von Kindern und alten Menschen. Aber der Netto-Effekt der erhöhten Frauenerwerbsbeteiligung bleibt positiv. Zum Teil sind es ja auch die Grosseltern im Pensionsalter, die bei der Kinderbetreuung einspringen. Man hat aber nicht nur Frauen besser in den Arbeitsmarkt eingebunden, auch bei den Ausländerinnen und Ausländern konnte man zuvor ungenütztes Potenzial vermehrt ausschöpfen, beispielsweise im Asylbereich. Dort haben die meisten Kantone Arbeitsmarkthürden abgeschafft oder zumindest deutlich reduziert.

Zurzeit erleben wir ja einen starken Digitalisierungsschub: Künstliche Intelligenz verbreitet sich rasant. Denken Sie, dass es wegen KI in Zukunft weniger Arbeit geben wird?
Da kann man sich an der Einführung des Computers oder des Internets in den letzten 30, 40 Jahren oder an noch früheren Technologisierungswellen wie etwa der Elektrifizierung orientieren. Diese waren in der zeitgenössischen Wahrnehmung ähnlich disruptiv wie jetzt KI. Typischerweise war es bei den meisten Technologien so, dass sie nicht weniger, sondern mehr Arbeit geschaffen haben – nicht bei den Leuten, deren Tätigkeiten direkt von der Technologie betroffen waren, aber in anderen Bereichen der Wirtschaft. Und das gilt auch für die Digitalisierung.

Warum?
Zunächst muss man berücksichtigen, dass die Verbreitung von digitalen Technologien immer viel länger dauert, als man denkt. So sagte etwa Elon Musk 2015, wegen der selbstfahrenden Autos würden wir in fünf Jahren keine Lastwagenfahrer mehr brauchen. Aktuell gibt es aber einen Mangel an Lastwagenfahrerinnen und -fahrern. Die Leute, die eine Technologie verkaufen und damit auch in den Medien wahrgenommen werden, haben ein Interesse daran zu überzeichnen, wie schnell und gut diese Technologie ist. Aber es dauert typischerweise immer deutlich länger, bis eine Technologie auf breiter Front angewendet und von vielen Firmen in die Arbeitsprozesse eingebaut wird. Da gibt es einige Hürden, die man im Voraus oft ein wenig unterschätzt.

Welche sind das?
Etwa wenn Mitarbeitenden das Know-how fehlt, um eine neue Technologie sinnvoll anzuwenden, oder wenn Konsumentinnen und Konsumenten sie nicht akzeptieren. Das sah man beispielsweise bei den Self-Scanning-Maschinen, die heute breit akzeptiert sind. Aber zu Beginn hatten viele Leute eine Abneigung dagegen und sagten: Ich gehe jetzt trotzdem an die Kasse, ich will doch dieser Frau oder diesem Mann nicht den Job nehmen! Zudem war die Technologie zu Beginn nicht ausgereift: Es gab immer wieder Produkte, die man nicht selber einscannen konnte, etwa weil der Strichcode leicht kaputt war oder eine Aktion vorlag.

Und warum schaffen digitale Technologien oft mehr und nicht weniger Arbeit?
Zum einen, weil eine neue digitale Technologie meist nur einen Teil der Tätigkeiten eines Berufs ersetzt und nicht alle. Ein typisches Beispiel ist die Einführung des Bankomats: Dieser übernahm einen Grossteil der Arbeit von Schalterangestellten, nämlich Geld herausgeben und wechseln. Aber es gab andere Tätigkeiten, die man weiterhin am Schalter machte, etwa Kundinnen und Kunden beraten. Und diese Tätigkeiten wurden tendenziell gestärkt; denn durch den Produktivitätsgewinn beim Herausgeben des Gelds konnten sich Bankangestellte vermehrt darauf konzentrieren, Kundenbeziehungen aufzubauen und zu pflegen oder Produkte zu verkaufen. Zum anderen ist es oft so, dass sich eine neue Technologie nur auf einen Teil der Berufe negativ auswirkt. Ganz viele sind davon gar nicht betroffen oder profitieren sogar davon. Bei den Banken wurden beispielsweise das ganze IT-Personal und das Management massiv ausgebaut. Und schliesslich werden Firmen durch die Einführung einer neuen Technologie oft effizienter und produktiver, dann können sie die Preise senken. So ist ein Computer mit grosser Rechenkapazität heute massiv günstiger als vor 20 Jahren. Weil wir für dasselbe Produkt weniger Geld in die Hand nehmen müssen, werden wir ganz generell viel reicher. Dann haben wir mehr Geld zum Ausgeben und können uns zum Beispiel einen Yoga-Kurs oder mehr Ferien leisten. Das heisst, es gibt mehr Konsum in Bereichen, wo man vorher nichts oder weniger ausgab, und das fördert wiederum ein breites Beschäftigungswachstum.

Erwarten Sie, dass sich KI ähnlich auf den Arbeitsmarkt auswirken wird wie frühere Digitalisierungswellen?
Bislang betraf die Digitalisierung vor allem Aufgaben, die einer klaren Regel folgten und die man in einen Algorithmus übersetzen konnte, also Routinetätigkeiten wie Fliessbandarbeiten oder Tabellenkalkulation. Neu ist jetzt, dass der Computer – wenn er mit genügend Daten gefüttert wird –, auch komplexe Tätigkeiten übernehmen kann, die impliziten Regeln folgen. Deshalb sind jetzt auch komplexe Klassierungsarbeiten, Schreiben oder Übersetzen der Automatisierung ausgesetzt. KI betrifft viele Wissensarbeitskräfte, auch höher bezahlte Jobs.

Wie wird sich das weiterentwickeln?
Das ist unklar. Diese Technologie ist neuartig, und man kann viel mehr mit ihr automatisieren als bisher – was natürlich ein riesiges Weiterentwicklungspotenzial hat. Das führt zu Unsicherheit. Zudem verbreiteten sich diese grossen Sprachmodelle in einer ersten Welle extrem schnell. Das hängt damit zusammen, dass OpenAI, Microsoft und Google die neue Technologie auf ihren Plattformen, auf die täglich Milliarden Menschen zugreifen, als einfach zu bedienende Chatbots zur Verfügung gestellt haben. Deshalb ist KI bereits stark verbreitet – normalerweise geht das, wie vorhin erwähnt, viel langsamer –, und diese Geschwindigkeit birgt gewisse Gefahren, weil es Betroffenen kaum Zeit lässt, sich anzupassen. Das sieht man jetzt beispielsweise bei der Übersetzungsnachfrage, die massiv eingebrochen ist.

Erwarten Sie, dass es in diesem Tempo weitergeht?
Die entscheidende Frage ist, wie viele Hindernisse es jetzt für eine noch breitere Einführung der KI gibt. Man sieht beispielsweise schon jetzt, dass es Millionen von Daten braucht, damit KI wirklich zuverlässig funktioniert. Die grossen Sprachmodelle konnten auf einen riesigen Textkorpus zurückgreifen, um Schreiben und Übersetzen zu lernen. Ob man in anderen Bereichen auch so viele Daten zur Verfügung hat, ist nicht so klar. Dazu kommt, dass Computer-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler, die solche KI-Modelle überhaupt entwickeln können, extrem rar sind. Auch gibt es zu wenig Computer-Chips. Aus diesen Gründen wird es wohl weniger schnell weitergehen, als die erste KI-Welle suggeriert hat.

Auch wenn die Weiterentwicklung langsamer geht als anfänglich erwartet, wird KI doch viele Berufe verändern. Welche sind es vor allem?
Stark betroffen sind zurzeit Tätigkeiten wie einfaches Programmieren, Bildgenerierung und Klassierungen und damit Berufe wie Journalistinnen, Lektoren, Sprachlehrerinnen, Steuerfachleute und Webdesignerinnen. Bei den Sprachlehrern fragt sich, wie viel Wert wir künftig darauf legen wollen, den Kindern in der Schule überhaupt noch Englisch beizubringen, wenn der Stöpsel im Ohr automatisch alles in alle Sprachen übersetzen kann.

Und welche Tätigkeiten sind weniger stark betroffen? Was sind die sichersten Branchen und Berufe der Zukunft?
Kreative Berufe, die kritisches und kontextuelles Denken erfordern, oder Berufe im Bereich der Datenwissenschaft und Informatik – etwa Programmieren, aber nicht das einfache Programmieren, sondern jenes, das in Zusammenhang mit der KI gefragt ist. Grundsätzlich sichere Werte sind Berufe im Gesundheitswesen und in der Bildung, aber nicht unbedingt die Sprachberufe. Auch Tätigkeiten im Gastgewerbe oder in der Reinigung sind sicher, sie erfordern situatives Denken und können höchstens teilweise von Computern und Robotern übernommen werden. Und natürlich bleiben alle diese Life-Style-Berufe oder Beratungsdienste sehr gefragt.

Und die Berufe im Zusammenhang mit der Umstellung auf erneuerbare Energien?
Ja, diese natürlich auch, zum Beispiel Heizungs- und Solarinstallateur. Wenn man in der Schweiz anschaut, in welchen Berufen eine Stelle durchschnittlich am längsten online ausgeschrieben bleibt, dann sind es diese beiden. Heizungs- und Solarinstallateur sind zwei typische Männerberufe, da gäbe es sicher noch Potenzial, dass mehr Frauen in diese Berufe gehen würden. Ingenieur ist auch ein sicherer Wert, wie generell auch viele Handwerksberufe.

Zudem gibt es Bereiche wie die Forschung, wo die Leute die KI wahrscheinlich nutzen werden, um sehr viel effizienter zu werden. Mithilfe von KI lassen sich etwa Berichte viel schneller schreiben. Dafür hat man mehr Zeit für anderes, das man vielleicht lieber macht, etwa die Forschungsergebnisse zu präsentieren. Diese sogenannte «augmentation» oder Verbesserung der Arbeit durch KI hat ein grosses Produktivitätspotenzial, auch in der Beratung oder in anderen Bereichen, wo wahrscheinlich neue Jobs entstehen werden.

Sie erwarten demnach nicht, dass es durch KI allgemein weniger Arbeit geben wird?
KI wird Gewinner und Verlierer auf dem Arbeitsmarkt schaffen – aber wohl nicht einen generellen Rückgang der Arbeit verursachen. Vor zehn Jahren herrschte eine grosse Digitalisierungsangst, man befürchtete, dass uns die Digitalisierung die Arbeit wegnehmen würde. Jetzt ist es ja gerade umgekehrt: Wir hoffen, dass uns die Digitalisierung den Fachkräftemangel löst, beispielsweise in der Pflege, wo wir zu wenige Leute haben und die Qualität abnimmt. Die Arbeit würde uns nur ausgehen, wenn wir jetzt durch KI einen riesigen Produktivitätsboom hätten. Damit würde aber auch ein Einkommenssprung einhergehen. Dann müsste man eher schauen, dass die Gewinne nicht nur bei wenigen anfallen, sondern umverteilt werden und allen zugutekommen.

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