Wir haben womöglich einen Garten. Wir säen aus. Es wächst! Oder wir haben Kinder, Nichten, Neffen. Sie wachsen! Wir legen uns eine Sammlung zu, Schallplatten, Bücher, Haifischzähne, was auch immer. Sie wächst! Und das fühlt sich gut und richtig an, man könnte sagen: Es ist die Natur der Dinge, dass sie anwachsen. Insofern dürfte es wohl keine Kultur auf der Welt geben, die solches Wachstum nicht a priori positiv sieht. Manche Kulturen allerdings haben ein besseres Gefühl für das Zyklische, das allem «natürlichen» Wachstum innewohnt. Werden und Vergehen, man kennt es vielleicht von den Darstellungen der Entwicklung eines Menschenlebens – vom Baby zum Kind zum Teenager zum Erwachsenen (immer aufstrebend) und dann weiter zum Senior und zum Greis (wieder kleiner werdend).
Das säkulare Heilsversprechen des Kapitalismus
Dieses Wieder-Vergehen allerdings hat nicht so richtig Platz in der westlichen Kulturtradition, spätestens jedenfalls in der von der Aufklärung geprägten. Ausgehend von gottgegebenen Zuständen, die höchstens im Jenseits eine Verbesserung erfahren, kommt es im Zuge von Aufklärung, Säkularisierung und Ökonomisierung zu einem radikalen Wandel der Weltbilder: Man ist nun plötzlich seines eigenen Glückes Schmied – und dieses Glück kann bereits auf Erden verwirklicht und im Prinzip unendlich gesteigert werden. Hier wird Wachstum zu einem «Heaven on Earth»-Narrativ, wie es der Ökonom Briger Priddat nennt. Man könnte auch sagen: Der Kapitalismus hat sein eigenes säkularen Erlösungsversprechen – eben jenes vom (ewigen) Wachstum.
Wann ist die Geburtsstunde des Wachstumsglaubens?
Oder wurzelt das Wachstumsideal noch viel tiefer? Für den Wirtschaftsphilosophen Wolf Dieter Enkelmann ist Wachstum ein «unhintergehbares Phänomen aller Zivilisation», für ihn ist das Streben nach dem guten Leben (und nicht der moderne Kapitalismus) die Geburtsstunde des Wachstums. Dieses beginne mit der «Gewinnökonomie», das heisst an dem Punkt, wo die Produktion über das zum blossen Überleben Notwendige hinausgeht. Dieser Punkt wäre historisch natürlich sehr früh anzusetzen – viel früher jedenfalls als die moderne, kapitalistische und ausbeuterische Ökonomie. Spätestens hier wird die die Idee von Wachstum ziemlich unscharf – im Grunde ist sie von «Fortschritt» nicht mehr zu unterscheiden, und dieser ist ein zentrales Motiv überhaupt der Geschichtsschreibung im Westen. Oder um es mit den Worten des Soziologen Clemens Albrecht zu sagen: «Die Wachstumskritik muss sich selbst als Wachstum darstellen, um geglaubt zu werden.»
Für irgendeine Art von Wachstum sollte also auch in einer Postwachstumsgesellschaft noch Platz sein – konkreter: Es wird darum gehen, zwischen qualitativem und quantitativem Wachstum zu unterscheiden. Letzteres hat viel mit ökonomisch-wissenschaftlichem Denken zu tun, damit, Wirtschaftsleistungen zu messen und zu vergleichen. Und dieses Denken hat natürlich auch seine Geschichte: Schaut man sich die ökonomische Fachliteratur (insbesondere am Beispiel der OECD) ein wenig genauer an, dann zeigt sich, dass Wachstum noch gar nicht so lange als «heilige Kuh» der Wirtschaftswissenschaft fungiert. Erst im Zeitraum zwischen 1950 und 1970 nahm die Popularität des Begriffes rasant zu und verbleibt seitdem auf hohem Niveau.
Krebs – Die Metapher vom bösartigen Wachstum
Doch nicht alle Wachstums-Narrative sind positiv. In kapitalismuskritischen Kreisen gibt eine Art Meme, das Wachstum in eine böse medizinische Chiffre packt: Krebs. Dies geht wohl auf ein 1999 publiziertes Buch von John McMurtry zurück: «The Cancer Stage of Capitalism». In der Twittersphäre klingt das dann so (Samara Larkin, 2017): «Im modernen Kapitalismus gilt ein Unternehmen, das lediglich einen stetigen Gewinn erwirtschaftet, als erfolglos, Erfolg definiert sich durch kontinuierliches, ungebremstes Wachstum. In der Biologie gibt es ein Wort für kontinuierliches, ungebremstes Wachstum: Krebs.» Tatsächlich wird Krebsgewebe gern als «unsterblich» und besonders schnell wachsend beschrieben – man könnte auch sagen: Krebszellen sind zu erfolgshungrig für den gesamten Organismus, sie schädigen ihn, weil sie rücksichtslos wachsen, ohne Bremse, ohne Grenzen.
Zyklische vs. fortschrittorientierte Wachstumsvorstellungen
Und plötzlich merkt man: Grenzen des Wachstums – das kennt man ja eigentlich auch im Gemüsegarten. Der Kürbis, die Rosenstauden: Da nimmt man besser hin und wieder die Gartenschere zur Hand. Und eigentlich ist da noch ein viel grundsätzlicheres Prinzip im Spiel: Winter is coming. Für die meisten Pflanzen folgt das biologische Wachstum, zumindest in unseren Breitengraden, einem zwingenden Zyklus von Aufschwung und Untergang. Was die Frage aufwirft, nebenbei, ob in Ländern um den Äquator ein gesünderes, behutsameres Verhältnis zum Wachstum herrscht. In den nördlichen Breitengraden muss sich die Natur ja auch in einer prekären Balance halten. Muss die Natur alles in den Sommer investieren und wuchern, was sie kann, im «Wissen» darum, dass der nächste Winter alles wieder zunichte macht?
Es gibt zwei Arten, dieses Werden und Vergehen zu betrachten: eine zyklische, harmonische – oder eine ewig vorwärtsstrebende, blind auf den Fortschritt vertrauende. Man könnte es auch das Sägezahn-Schema nennen: bergauf, immer nur bergauf – bis zum nächsten Crash. Oder auch: Aufschwung – Weltkrieg – Wirtschaftswunder – nächster Kollaps. Kriege sind überhaupt die verlässlichsten Wachstumsmotoren, sie gleichen insofern dem Winter im Gemüsebeet. Oder eher noch einem Steppenbrand. Aus der Asche früheren Wachstums wächst es sich bekanntlich noch viel besser.