moneta: Frau Wydler-Wälti, Ende Oktober haben die Klimaseniorinnen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage gegen den Bundesrat angekündigt. Wie lief das genau ab?
Rosmarie Wydler-Wälti: Co-Präsidentin Anne Mahrer und ich fuhren mit dem Greenpeace-Schiff «Beluga» auf dem Rhein von Basel nach Strassburg und kündeten vor dem Gerichtsgebäude mit einem Medien-Event die Einreichung unserer Klage an. Wir präsentierten ein Stück der 300 Meter langen Wimpel-Kette, die unsere Vereinsmitglieder zusammen mit vielen anderen gestaltet hatten. So konnten uns alle, die unsere Klage unterstützen, wenigstens symbolisch nach Strassburg begleiten. Die eigentliche Klageschrift wird Ende November eingesandt.
Was fordern Sie in Ihrer Klage?
Dass die Schweiz strengere klimapolitische Massnahmen trifft, um die Klimaerwärmung deutlich unter 2 °C zu begrenzen.
Auf welche Rechtsgrundlage berufen Sie sich?
Wir stützen uns auf die Menschenrechtskonvention und die in der Bundesverfassung verankerte Pflicht des Staates, unser Recht auf Leben und Gesundheit zu schützen. Als ältere Frauen sind wir besonders von den schädlichen Auswirkungen der Klimaerwärmung betroffen.
Ihre Klage wurde in der Schweiz von allen Instanzen abgewiesen, zuletzt im Mai vom Bundesgericht. Mit welcher Begründung?
Das Bundesgericht argumentierte, unser Recht auf Leben und Gesundheit sei zum heutigen Zeitpunkt «nicht in hinreichender Intensität berührt», und es bestehe noch genügend Zeit, Massnahmen zu ergreifen, um die Klimaerwärmung deutlich unter 2 °C zu begrenzen.
Wissenschaftliche Studien zeigen aber, dass die Massnahmen zur CO2-Reduktion jetzt getroffen werden müssen, damit sie rechtzeitig wirken.
Ja. In der Verfassungsklausel, auf die wir uns berufen, geht es um unseren Schutz. Und schützen ist immer präventiv. Ich weiss nicht, wie das Bundesgericht sich das vorstellt: Sollen wir erst klagen, wenn es zu spät ist? Im Ergebnis macht dieses Urteil die Klimakrise zu einem grundrechtsfreien Raum.
Ganz anders entschied das oberste Gericht in den Niederlanden.
Ja. Der Hohe Rat der Niederlande hiess 2019 eine Klage der Umweltstiftung Urgenda gut und entschied, dass die Regierung zum Schutz der Menschenrechte die CO2-Emissionen dringend reduzieren müsse.
Ist es hinsichtlich der Gewaltentrennung nicht heikel, wenn ein Gericht über die Klimapolitik eines Staates entscheidet?
Nein. Das niederländische Gericht begründete sein Urteil damit, dass das klimapolitische Ziel an sich – die Erwärmung deutlich unter 2 °C zu begrenzen – politisch nicht verhandelbar und deshalb einklagbar sei. Verhandelbar sei nur die Art der Massnahmen, die es brauche, um dieses Ziel zu erreichen.
Es heisst, Ihre Klage am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte könne zu einem Präzedenzfall für ganz Europa werden. Warum?
Sie könnte richtungsweisend werden für alle 47 Europarat-Staaten, die die Menschenrechtskonvention ratifiziert haben. Wenn der Gerichtshof entscheiden sollte, dass die Regierungen ihre Bürgerinnen und Bürger vor der Klimaerwärmung schützen müssen, dann würde das nicht nur die Schweiz betreffen, sondern auch die anderen 46 Staaten. Deshalb hat unser Fall das Potenzial, im Bereich Klima und Menschenrechte Geschichte zu schreiben.
Wie lange wird es bis zum Urteil dauern?
In den kommenden Monaten entscheidet der Gerichtshof, ob er überhaupt auf unsere Beschwerde eintritt. Ein Grossteil der Klagen wird aus formellen Gründen gar nicht behandelt. Wenn diese Hürde geschafft ist, kann es noch einige Jahre bis zum eigentlichen Urteil dauern.
Warum engagieren Sie sich so stark für die Klimaklage?
Umweltthemen beschäftigen mich seit Jahrzehnten. Ich war in verschiedenen Gruppierungen aktiv und habe stets versucht, im Alltag auch mit meiner grossen Familie möglichst umweltschonend zu leben. Die Klimaklage ist für mich zu einer Herzensangelegenheit geworden, zu meiner Aufgabe – auch für die Zukunft der Jugend.