Was versteht man unter Bruttonationalglück (BNG)?
Ha Vinh Tho: Das BNG entstand aus dem politischen Willen, in Bhutan eine Gesellschaft zu errichten, welche die Kultur und die Natur des Landes bewahrt. Das BNG ist eine Kennzahl, die auf spirituellen Werten des Buddhismus beruht. Es dient unter anderem als Leitlinie für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und basiert auf vier Grundsätzen: dem Umweltschutz, der Bewahrung und Förderung der bhutanischen Kultur, der guten Regierungsführung und der verantwortlichen und nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung.
Aus westlicher Sicht kann das BNG wie eine Bevormundung wirken, wie eine Verpflichtung zum Glücklichsein.
Die Definition von Glück des vierten Königs von Bhutan war Ausdruck seiner Überzeugung, dass sich materielle und spirituelle Werte gegenseitig verstärken. Doch seine Vorstellung des kollektiven und individuellen Glücks wurde im Westen als Notwendigkeit interpretiert, einen bestimmten Lebensstandard zu erreichen. Das Glück besteht jedoch in einem Gleichgewicht zwischen der Entfaltung jedes einzelnen Menschen und der Entwicklung von Kompetenzen wie Mitgefühl, Nächstenliebe, Dankbarkeit oder Grosszügigkeit. Die bhutanische Regierung führt alle drei Jahre eine Erhebung durch, in der sie die Bürgerinnen und Bürger zu ihrer physischen und psychischen Gesundheit, ihrer Arbeitszufriedenheit, zur Leistung der Regierung, zur Umwelt und zur Bildung befragt. Die Bevölkerung muss mit dem Gesellschaftsentwurf einverstanden sein, er kann nicht von oben bestimmt werden. Dies gilt insbesondere angesichts der raschen Öffnung gegenüber der Moderne, die dringende wirtschaftliche und kulturelle Fragen aufwirft.
Von welcher Art von Glück reden wir hier?
Von dem Glück, das entsteht, wenn der Mensch im Einklang mit seinen Werten lebt und Bedingungen schaffen kann, die ihm erlauben, auf dieser Erde ein gutes Leben zu führen. Dies bedeutet auch, dieser Erde Sorge zu tragen und zu verstehen, dass man ihr gegenüber eine Verantwortung hat. Für mich ist die Ökologie die wichtigste Säule des Nationalglücks. In der buddhistischen Vorstellung sind der Mensch und die Erde eins. Die Würde aller Lebensformen ist gleichwertig.
Aus dieser Perspektive ist die Wirtschaft also nur ein Untersystem dieser Biosphäre?
Genau. Das wichtigste Ziel der Wirtschaft ist, die legitimen Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen. Erfüllt die Wirtschaft ihre Aufgabe? Erhöht sie das Wohlbefinden aller – wirklich aller – Menschen und auch aller anderen Lebewesen? Das aktuelle Wirtschaftssystem ist für den Planeten nicht tragbar und führt zu sozialen Ungleichheiten, die sich nicht rechtfertigen lassen. In unseren Programmen in Bhutan und zahlreichen anderen Ländern zeigen wir den Teilnehmenden auf, wie sie die Werte und Praktiken des BNG in ihrem eigenen Kontext umsetzen können. Schulen und Unternehmen – wie zum Beispiel die Grimm-Gruppe in Thailand – legen damit nicht nur Wert auf finanziellen Gewinn, sondern fördern auch das Wohlbefinden aller. Wir brauchen neue Geschichten, die wir unseren Kindern erzählen können. Geschichten, die nicht vom Gesetz des Stärkeren, sondern vom Zusammenleben handeln, von Genügsamkeit und Harmonie. Sie müssen die Systeme von innen verändern, indem sie folgende Frage stellen: Wie kann Leid so weit wie möglich vermieden werden? Das ist die Grundlage des Buddhismus: Das Leid ist Teil des menschlichen Daseins. Die drei tieferen Ursachen dafür sind die Entfremdung von uns selbst, von der Natur und von unseren Mitmenschen.
In Ihrem Buch definieren Sie BNG als das Gleichgewicht zwischen den äusseren und den inneren Voraussetzungen für das Streben nach Glück.
Indem wir lernen, nach innen zu blicken, um unser Leid und unsere Wut anzunehmen, können wir uns transformieren und die Fähigkeit nähren, Glück zu empfinden. Erst dann können wir äussere Strukturen und das Wirtschaftssystem verändern. Das BNG bildet den Rahmen, in dem die individuelle und die gesellschaftliche Transformation gleichzeitig stattfinden können.