«Bevor die Stadtstrasse physisch umgebaut werden konnte, um sie für Motorfahrzeuge tauglich zu machen, musste sie sozial als Fahrbahn rekonstruiert werden», schreibt der Historiker Peter Norton, der die Geschichte der Verkehrserziehung in den USA erforscht hat. Die Verkehrserziehung in den 1920er-Jahren war von Automobilverbänden organisiert oder gesponsert (auch in der Schweiz). Nicht mehr die Automobilisten, sondern das falsche Verhalten der Fussgänger sollte im öffentlichen Bewusstsein für die rasant steigenden Unfallzahlen verantwortlich gemacht werden. Zebrastreifen erscheinen heute als fussgängerfreundlich, aber in ihrer Anfangszeit (ab etwa 1920) lautete ihre Botschaft nicht «Hier haben Fussgänger Vortritt», sondern: «Überall sonst haben Fussgänger keinen Vortritt». Entsprechend lange weigerten sich die Gehenden, die Disziplinierungsmassnahme zu beachten, und die Gerichte waren bis mindestens in die 1930er-Jahre auf ihrer Seite.
Aber die Regierungen hatten bereits begonnen, die Automobilisierung der Gesellschaft und des Raumes aktiv voranzutreiben – unter jeder ideologischen Ausprägung, am gezieltesten aber unter Faschismus und Nationalsozialismus. Es ist verblüffend: Das Auto verspricht Mobilität, aber es immobilisiert seine Insassen mit Sicherheitsgurten. Es verspricht Freiheit, aber kein Raum ist so hoch reglementiert wie der Strassenverkehr. Es verspricht individuelle Fortbewegung, aber nirgends bewegt man sich so im Gleichtakt wie im Stau. Strassen sollen Menschen verbinden, aber kleine Kinder dürfen sie nicht allein überqueren. Aber das ist nur verblüffend, wenn man sich weigert, das Normale als normal zu akzeptieren. Beendet man das Gedankenexperiment und kehrt zurück in die Realität: Dann sind 250 Tote (und 20 000 Verwundete) pro Jahr auf den Schweizer Strassen ein Tribut an die Mobilität und ein Erfolg, weil es die fünfzig Jahre zuvor stets schlimmer war.