Ralf Bongartz, warum sind Sie Trainer für Zivilcourage geworden?
Ralf Bongartz: Ich war 20 Jahre lang Kriminalhauptkommissar und habe mich mit tiefen Schattenseiten des Menschen auseinandergesetzt. Die Beweggründe gewaltsamen Verhaltens haben mich schon damals interessiert – etwa in Vernehmungen. Meine Kollegen haben mir deshalb den Spitznamen «Seelentieftaucher» gegeben. Als Ausgleich zur ständigen Präsenz von Gewalt im Arbeitsalltag habe ich eine Ausbildung zum Pantomimen angefangen und lange als Schauspieler gearbeitet. Dadurch änderte sich mein Fokus: Weg von der Strafverfolgung, hin zur Prävention. So habe ich mich in diese Richtung weitergebildet.
Was kann ich in Ihren Kursen lernen?
Etwa, den Mut mit Taktik zu verbinden. Mit Mut allein rutscht man leicht in Fettnäpfchen oder gerät in Gefahr, selbst verletzt zu werden oder Gewalt anzuwenden. Sie lernen bei mir viel über Körpersprache und wie Sie damit in aggressiven Situationen deeskalierend oder konfrontierend wirken können. Ich zeige auch auf, dass es für Mut ein gewisses Mass an Wut braucht. Wut kann helfen, klare Grenzen zu setzen. Sie hilft, schnell und effektiv zu handeln, wenn sie nicht in blinden Hass umschlägt.
Wie schaffe ich das?
Taktisch heisst, im Schulterschluss mit anderen zu handeln anstatt allein. Also nicht blind in eine Situation rauschen, sondern innehalten, schauen und andere einbinden.
Wäre es nicht manchmal sinnvoller, ein Feigling zu sein und auszuweichen?
Schlaues Zurückweichen und Feigheit sind nicht dasselbe! Nehmen wir eine Situation, in der Sie im Tram angepöbelt werden: Das Dümmste, das Sie machen können, ist, in einem solchen Moment so zu tun, als wollten Sie sich unsichtbar machen, und beispielsweise in Ihr Handy starren. Das tun jedoch viele. Sie senken so den Kopf und signalisieren dem Täter: Ich unterwerfe mich.
Was wäre besser?
Sie behalten den Blick in der Horizontalen und bleiben aufgerichtet. Dabei halten Sie den möglichen Täter im Augenwinkel. Das Gefahrenradar bleibt eingeschaltet, und Sie signalisieren Stärke. Potenzielle Täter funktionieren wie wilde Löwen: Sie suchen sich schwache Opfer als Beute aus.
Polizisten – Sie waren das jahrelang – brauchen viel Mut. Wurde Ihnen diese Stärke in die Wiege gelegt?
Im Gegenteil! Mir hat Gewalt Angst gemacht. Vermutlich hat gerade dies mein Interesse geweckt und war die Motivation, mich beruflich in diese Richtung zu entwickeln.
Gibt es Menschen, die Sie für ihren Mut bewundern?
Meine ehemaligen Berufskollegen: Polizeibeamte. Oder aktuell die Weisshelme in Syrien, diese zivilen Aktivisten, die während der laufenden Kämpfe Opfer aus Ruinen holen. Oder Rosa Parks, die in den 1950er-Jahren als Schwarze in den USA den Mut hatte, auf einen für Weisse reservierten Platz im Bus zu sitzen, und dafür verhaftet wurde.
Glauben Sie, dass die Zivilcourage heute eher zu- oder abnimmt?
Es gibt natürlich Situationen, in denen sich eine unbegreifliche Feigheit beobachten lässt, etwa dann, wenn ein 15-Jähriger in einer vollen U-Bahn zusammengeschlagen wird, und keiner tut was. Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten, sich als Gruppe zu formieren oder verbal zu intervenieren. Generell glaube ich jedoch, dass die Zivilcourage zunimmt. Früher blieben zum Beispiel Misshandlungen von Frauen oder Kindern oft unter dem Deckel; heute wagen Nachbarn und andere Menschen im Umfeld eher, solche Missstände anzuzeigen.
Andererseits traut sich heute kaum mehr jemand, etwas zu sagen, wenn Leute ihren Abfall achtlos wegschmeissen.
Aus meiner Sicht ist das weniger ein Zeichen für schwindende Zivilcourage als dafür, dass sich die Wertesysteme verschieben. Die Gesellschaft hat heute andere Erwartungen, wie man sich im öffentlichen Raum zu benehmen hat. Der Wert, den man Individuen oder Bevölkerungsgruppen oder Dingen beimisst, prägt die Art der Zivilcourage, die in einer Gesellschaft vorherrscht.