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01.06.2018 von Muriel Raemy

«Ich wollte schon immer die Welt verstehen»

Der in Morges wohnhafte Jacques Dubochet ist in erster Linie Biophysiker, Linksaktivist und Umweltschützer, doch seit Oktober 2017 ist er noch mehr: Nobelpreisträger in Chemie für seine Arbeit im Bereich der Kryo-Elektronenmikroskopie. Die 360'000 Franken Preisgeld hat der Westschweizer auf einem Konto der Alternativen Bank Schweiz angelegt.

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Jacques Dubochet, Nobelpreisträger 2017 in Chemie.
Es sei ein grosser Schock gewesen, als am 4. Oktober 2017 der Anruf kam. «Ich wollte friedlich meinen Ruhestand geniessen, und plötzlich stehe ich vor den Augen der gesamten Weltöffentlichkeit als der Wissenschaftler da, der das kalte Wasser erfunden hat.» Jacques Dubochet teilt den Nobelpreis mit seinen Kollegen Joachim Frank aus den USA und Richard Henderson aus Grossbritannien. Sie alle haben mit ihren Forschungsarbeiten die Kryo-Elektronenmikroskopie mit vitrifizierten Proben möglich gemacht. Doch was hat das mit kaltem Wasser zu tun?
Dazu ein Blick zurück in die Achtzigerjahre, als Jacques Dubochet am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie in Heidelberg tätig war. Vereinfacht ausgedrückt, muss im Inneren der Säule eines Elektronenmikroskops ein Vakuum aufrechterhalten werden, damit die Elektronen in die Zellstruktur eindringen und diese abbilden können. Und Wasser verdampft im Vakuum. So wurde in der Elektronenmikroskopie während über fünfzig Jahren nur mit getrockneten Proben gearbeitet. «Mein Forschungsprojekt zielte darauf ab, die Proben in ihrem ursprünglichen Zustand zu bewahren, indem sie bei so tiefen Temperaturen verwendet werden, dass das Wasser nicht verdampft. Das ist, was man unter Kryo-Elektronenmikroskopie versteht. Doch bei so tiefen Temperaturen gefriert Wasser, und Eis zerstört die Proben gleich wie Austrocknung», fasst Dubochet zusammen. Wie kann also mit wässrigen Proben gearbeitet werden? Hier kommt die Vitrifizierung ins Spiel, eine Art Schockgefrieren, bei der eine Flüssigkeit fest wird, ohne dass sie kristallisiert. Jacques Dubochet erinnert sich genau an den Augenblick im Jahr 1980, als sein Kollege Alasdair McDowall und er im Mikroskop einen gefrorenen Wassertropfen beobachteten, den sie langsam erwärmten. Bei –135 °C verwandelte sich diese plötzlich in kubische Eiskristalle, in vitrifiziertes Wasser. «Die Vitrifizierung von Wasser galt bis dahin als unmöglich! Können Sie sich vorstellen, wie wir uns da gefühlt haben?»

Eine gemeinsame Entdeckung

Seit diesem Zeitpunkt ermöglicht das Vitrifizieren die Beobachtung von Zellen, ohne dass diese dabei denaturiert werden. Diese Entdeckung wurde – gemeinsam mit den mathematischen Methoden für die Bildverarbeitung von Joachim Frank sowie dem 3D-Bild eines Proteins in atomarer Auflösung, an dem Richard Henderson gearbeitet hat, – von der Königlichen Akademie in Stockholm als «bildgebendes Verfahren für die Moleküle des Lebens» ausgezeichnet.
«Die Resultate der Kryo-Elektronenmikroskopie haben sich von Jahr zu Jahr verbessert. Das Volumenelement, das mit der heutigen Auflösung dargestellt werden kann, ist tausendmal kleiner als bei unserem Modell von 1986. Das bedeutet, dass Atome sichtbar werden», vereinfacht Jacques Dubochet. Und Atome fallen auch in den Bereich der Chemie. So kam es, dass den drei Wissenschaftlern der Nobelpreis in Chemie verliehen wurde, obwohl sie Biologen und Physiker sind. «Für mich zeigt der Preis, dass die Naturwissenschaften eine Einheit bilden. Das ist für mich die Quintessenz aus einem kollektiv erarbeiteten Modell der Natur.»

Die Natur als Lehrmeister

Die Welt, die ihn umgibt, zu verstehen, war Jacques Dubochet schon immer ein Bedürfnis. Mit vier Jahren stellte er sich, um seine Angst vor der Dunkelheit zu besiegen, jede Nacht vor, dass die Sonne wiederkommt. Diese persönliche kopernikanische Wende sagte ihm mehr als der christliche Glaube an einen Schutzengel. «In dieser Hinsicht war ich schon immer Wissenschaftler. Ich glaube nicht an eine höhere Macht. Mein einziger Lehrmeister ist die Natur», fährt Dubochet fort, der sich als zufriedener und ruhiger Atheist beschreibt. Sehen, experimentieren, die Natur spüren, das war schon immer seins. Als Biologiestudent stand Dubochet im Morgengrauen auf, um seine ebenfalls an der Naturforschung interessierten Kameraden auf Vogelbeobachtungen zu begleiten oder um nach Regenwürmern zu graben. «Ich habe dann meine Doktorarbeit in Biophysik gemacht. Ich verbrachte den grössten Teil meiner Zeit im Labor, hörte aber nie auf, mich für Umweltschutz und Nachhaltigkeit zu interessieren.»
Er ist also auch Umweltschützer: «Bei unserem zweiten Date gingen meine Frau und ich gegen das geplante AKW Kaiseraugst demonstrieren. Und mein erstes selbst verdientes Geld habe ich in die Busse investiert, die ich zahlen musste, weil mich die Polizei in flagranti erwischte, als ich gerade ein Plakat gegen den Genfer Autosalon an einen Pfosten klebte», lacht der Nobelpreisträger, der seine aktivistische Seite im Mai 1968 entdeckte. Mit dem Vermerk «sehr wichtig» hat der Professor, der für seine Fähigkeit der einfachen Darstellung ebenso wie für seinen Humor geschätzt wird, das Jahr sogar in sein CV aufgenommen. Seit er Nobelpreisträger ist, wurde seine Biografie übrigens über 200000 Mal von Besuchern aus der ganzen Welt angeklickt.

Vom schlechten Schüler zum Philantropen

«Ich bin ein durchschnittlicher Forscher, doch ich wollte nie wie alle anderen sein. So entwickelte ich eine gewisse Kreativität», lächelt Dubochet, der zugibt, ein katastrophaler Schüler gewesen zu sein. Bis er einmal ein Teleskop baute, in das er viel Zeit investierte. «Ich schliff die Linse selbst. Ich verbrachte mehr als 250 Stunden damit, die für mich etwas ganz Besonderes waren. Mir wurde klar, dass Wissenschaft harte Arbeit ist!» Es habe gedauert, bis er auch nur über ein paar der Instrumente verfügt habe, mit denen sich die Komplexität des Lebens verstehen lasse. «Doch mein Wissen bleibt sehr klein und mein Unwissen sehr gross. Das motiviert mich, mehr zu erfahren, und gibt meinem Leben einen grossen Teil seines Sinns.»
Ein Sinn, den er nun auch in seinem sozialen Engagement sieht. «Meine Obsession, alles verstehen zu wollen, bringt mich unweigerlich dazu, den Zustand der Welt zu analysieren. Die Welt dreht sich seit jeher nur um Geld. Das ist das Problem.»
Jacques Dubochet fragte seine Studentinnen und Studenten regelmässig, welche Werte für sie in ihrem Privatleben und in ihrem Leben als Forscherinnen und Forscher grundlegend seien. Die Frage überraschte viele, nur wenige konnten darauf antworten. «Die Menschheit wäre besser beraten, wenn sie öfter daran denken würde, was wichtig für sie ist. Wir würden uns weniger damit abkämpfen, mehr zu verdienen und die soziale Leiter zu erklimmen», stellt der Rentner fest, der sich seit dem Gewinn der 360 000 Franken, mit denen der Nobelpreis dotiert ist und die er im Moment auf einem Konto bei der ABS deponiert hat, in einer unerwarteten Lage befindet. «Ich möchte, dass ein Teil dieses Geldes dazu verwendet wird, Hilfsprojekte für Migranten zu finanzieren, und ein anderer Teil für die Stärkung des Programms ‹Biologie und Gesellschaft› der Universität Lausanne.»
Jacques Dubochet sitzt für die SP im Gemeinderat von Morges und ist zudem Mitglied der Klima-Grosseltern Schweiz, einer Organisation, die sich für den Ausstieg aus den fossilen Energien stark macht. «Wir Wissenschaftler haben eine Verantwortung für die Gesellschaft, für die wir Wissen schaffen. Wir müssen ins Gemeinwohl, ins Glück aller und der zukünftigen Generationen investieren», schliesst Dubochet, der immer Forscher bleiben wird. Er betreibt einen Blog mit seinen Gedanken, in dem er Wissenschaft verständlich darstellt. Und in seinem im Mai erschienenen Buch «Parcours» verbreitet er seine humanistische Botschaft. Auch dies im 
Dienste der Wissenschaft.
Literaturhinweis: Jacques Dubochet: Parcours. Auf Französisch erschienen im Verlag Rosso Editions, Mai 2018.
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