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16.06.2021 von Esther Banz

Geld und Nerven sparen

In der Stadt ohne Auto zu leben, ist meist kein Problem. Aber wie lebt eine Familie mit mehreren Kindern autofrei auf dem Land? Und wie arbeiten ein Handwerker und ein Fernsehjournalist ohne eigenes Fahrzeug? Drei Porträts.

Artikel in Thema autofrei
Illustration: Claudine Etter

Die Grossfamilie
Beda und Ursina Brun del Re mit Laurin (14), Andrina (13), Fadri (11) und Madlaina (9), Weesen

Die ersten beiden Kinder von Beda und Ursina Brun del Re kamen noch in der Stadt zur Welt – sie lebten damals in Zürich, schätzten den öffentlichen Verkehr, ­waren aber auch viel mit Velo und Anhänger unterwegs. Dann zog es sie nach Weesen, wo sie ein Haus bauen konnten. Das dritte Kind kam und bald auch das vierte. Im Dorf Leute kennenzulernen und mit ihnen in Kontakt zu bleiben, war schwieriger, als sie erwartet hatten   – und schwieriger als in der Stadt. Denn viele seien mit dem Auto unterwegs, so begegne man sich kaum im Alltag, sagt Beda Brun del Re: «Wir lernten primär die Leute kennen, die auch den öffentlichen Verkehr benutzen oder mit dem Velo oder zu Fuss unterwegs sind.» 
Viele Leute aus dem Umfeld prognostizierten der Familie, dass sie nach dem Umzug aufs Land wohl ein Auto benötigen würden. Aber: «Wir sind jetzt seit über zehn Jahren hier und kommen gut ohne Auto aus. Die Einkäufe lassen wir uns liefern, oder wir fahren mit Velo und Anhänger ins Dorf. Hobbys suchen wir uns meist so aus, dass sie in Veloreichweite stattfinden.» Dogmatisch wollen sie aber auch nicht sein, Fahrangebote nehmen sie dankbar an, gerade für die Aktivitäten der Kinder, für Trainings und Turniere etwa, die weit entfernt oder mit dem ÖV schlecht erreichbar sind. Und kürzlich liehen sie für ein paar Wochen ein Auto aus, weil der eine Sohn ein Bein gebrochen hatte. «Wir fuhren ihn in der Zeit zur Schule. Da sahen wir, dass man sich sofort anders verhält, wenn ein Auto fahrbereit vor der Türe steht. Zum Beispiel gab es Einkaufstouren und Ausflüge, die wir sonst wohl unterlassen hätten», erzählt der Familienvater. Ursina Brun del Re ihrerseits genoss die Zeit mit dem Gefährt, sie sagt: «Manchmal ist eine Autofahrt schlicht die einfachere und praktischere Variante.»
Dauerhaft ein Auto zu besitzen, muss aber für beide nicht sein. Er würde es eher als Belastung empfinden, ist Beda Brun del Re überzeugt: «Immer wieder ein Service, das Auto durch die Kontrolle bringen müssen, dann die Gefahr von Bussen und überhaupt die Kosten. Ich bin froh, haben wir keins.» Eine Herausforderung seien vor allem die Ferien: «Eine sportliche Familie mit vier Kindern benötigt ziemlich viel Material. Zum Teil haben wir angefangen, die SBB-Angebote besser zu nutzen. Man kann sein Gepäck ja zu Hause abholen lassen.» In die Sommerferien nach Sardinien reisen sie im Zug und mit der Fähre, auf der Insel angekommen, nehmen sie ein Taxi bis zum Zielort. «Wir haben uns noch nie in unserer Mobilität einschränken lassen», sagt der vielseitig sportbegeisterte Familienvater. Auch Laurin, der ältere Sohn, findet das Zugfahren praktisch: «Da kann man während der Fahrt herumlaufen und aufs WC gehen, das ist doch ein grosser Vorteil!»
Text: Esther Banz

Der Maler
Marco Pestoni, Mamishaus

Seit er selbstständig ist, lebt und arbeitet der Berner Flächenmaler Marco Pestoni ohne eigenes Auto – 25 Jahre sind das jetzt. Die Materialien, die er zu seinen Arbeitsorten in der Region bringen muss, sind schwer: Metallkübel mit Naturfarben, eine Leiter, eine Schleifmaschine auch. Weniger schwer sind die Pinsel und das Abdeckmaterial. Handwerkerinnen und Handwerker sind meist motorisiert unterwegs, weil ihre Arbeitsgeräte Platz und Pferdestärken brauchen. Auch Marco Pestoni bringt sein Material mit einem Auto: «Am Tag bevor ich mit dem Malen beginne, bringe ich alles an den Ort – und Tage später, nachdem die Arbeit getan ist, alles wieder zurück. Dafür miete ich bei Mobility ein Auto, meistens reichen mir je zwei Stunden dafür. Am nächsten Tag fahre ich dann gemütlich mit den ÖV zu dem Haus, in dem ich male. Und fange mit der Arbeit an. Manchmal fragen mich die Leute, noch bevor ich den ersten Pinselstrich gemacht habe, wie lange es wohl dauern werde. Viele haben einfach keine Geduld.» Runterfahren ist Pestonis Motto, «nid jufle!». Seine grosse Berufserfahrung hat ihn gelehrt: «Beim Stressen gehen Sachen vergessen – und das bedeutet ganz oft: zusätzliche Autofahrten.» Der viele Verkehr gibt ihm zu denken. Er versteht auch nicht, wie man sich das freiwillig antun kann, Tag für Tag.
Marco Pestoni dachte früher anders. In den 1980ern arbeitete er fünf Jahre lang als Lastwagenfernfahrer und war begeistert von Autos: «Ich hatte drei, zuletzt einen Opel Commodore Coupé. Das Erste, was ich nach meiner Afrikareise 1986 machte, war: das Auto zum Abbruch bringen. Ich blieb dort stehen und schaute zu, wie es zu einem Klotz zusammengepresst wurde. Warum? Ich wollte einfach sichergehen, dass es nicht doch weiterverkauft wird. Es war in gutem Zustand, ich hätte noch einen ordentlichen Batzen dafür erhalten. Aber es sollte fortan ein Auto weniger auf den Strassen unterwegs sein.» 
Nach und durch Afrika ging Marco Pestoni per Velo. Neun Monate dauerte die Reise ab Bern mit Ziel Dakar. In der senegalesischen Hauptstadt angekommen, war er ein anderer, erzählt der Berner: «Bis heute. Was mich so geprägt hat? Die Kultur. Das einfache Leben. Die Stille. Die Herzlichkeit und Offenheit der Menschen. Da bin ich ökologisch geworden.» Die Ökologie sei ihm das Wichtigste. «Und dass wir lernen, wieder runterzufahren und einander zuzuhören.» 
Text: Esther Banz

Der Journalist und Fernsehproduzent
Jonas Schneiter, Lausanne

Jonas Schneiter erinnert sich noch an den Stolz, den er beim Kauf seines imposanten 4 × 4 mit Dieselmotor empfand. Damit konnte er die abgelegensten Ecken der Romandie erreichen, um für die Sendung «Aujourd’hui» des Westschweizer Fernsehens (RTS), die er damals produzierte, Initiantinnen und Initianten von Nachhaltigkeitsprojekten zu porträtieren. «Ich traf äusserst engagierte Menschen. Und nach und nach wurde mir klar, wie gross der ökologische Fussabdruck meines überdimensionalen Autos war.» Er hätte ja gern gesagt, dass er das Autofahren freiwillig aufgegeben habe, dass er entschieden habe, zu Fuss in eine ökologischere Zukunft zu schreiten, doch so war es nicht: Jonas Schneiter wurde für ein Jahr der Führerschein entzogen – von September 2018 bis September 2019. «Für mich brach eine Welt zusammen! Vom Wohnen bis zum Arbeiten: Mein ganzes Leben war darauf aufgebaut, dass mir ein Auto zur Verfügung stand.» Von dieser Erfahrung erzählt Schneiter in einem Kapitel seines Buches «Écolo à profit. Comment j’ai sauvé un ours polaire et économisé beaucoup d’argent» (in etwa: Umweltschützer aus Eigennutz – wie ich einen Eisbären gerettet und dabei eine Menge Geld gespart habe).
Nicht frei von Ironie bekennt er sich zum Opportunismus: «Seien wir einmal ehrlich. Wenn man mir den Nutzen für unseren Planeten und für mein Portemonnaie aufzeigt, ändere ich mein Verhalten. Wenn ich weniger konsumiere, dann will ich auch weniger bezahlen.» Er erzählt aber auch, wie sein Leben ohne Auto angenehmer wurde: Schluss mit mühsamen Staus, mit der Müdigkeit nach stundenlangen Autofahrten und dem Stress bei der Parkplatzsuche. Was er an Flexibilität einbüsste, gewann er an Komfort. Er zog in eine kleinere und besser isolierte Wohnung in der Stadt, arbeitete im Zug und vereinbarte seine Termine in der Nähe von Bahnhöfen.  
Als er seinen Führerschein zurückbekommt, bleibt er seinem Generalabonnement eine Zeit lang treu. Schliesslich – aus Bequemlichkeit – kauft sich Jonas Schneiter wieder ein Auto, dieses Mal ein elektrisches. Plagt ihn deshalb das schlechte Gewissen? «Ich finde die passenden Ausreden: Ich muss für meine Dreharbeiten viel Material transportieren; ich möchte keine Termine absagen, weil sie zu weit weg sind, sie nicht zum Zugfahrplan passen oder gar kein Zug hinfährt. Kurz: Ich bewege mich ständig in Widersprüchen.» Im zusammen mit Marc Müller gedrehten Dokumentarfilm «À contresens – Voiture électrique, la grande intoxication» («À Contresens – journalistische Expedition zu den Mythen des Elektroautos») zeigt Schneiter auf, dass Elektroautos die Umwelt weniger belasten als Autos mit Verbrennungsmotoren. Macht man damit alles richtig? «Nein», stellt Schneiter im Film klar, «man kann sich damit nicht reinwaschen. Wir müssen die individuelle Mobilität unbedingt reduzieren.» 
Text: Muriel Raemy

Literatur

  • Jonas Schneiter, «Écolo à profit. ­Comment j’ai sauvé un ours polaire et économisé beaucoup d’argent», Helvetiq, 2019. Nur in Französisch erhältlich.
  • «À contresens – Voi­ture électrique, la ­grande intoxication», September 2020. Film verfügbar auf VOD auf Swisscom TV oder Net+.
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