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12.06.2024 von Waseem Hussain

Die grosse Wut

Nach Jahrzehnten der Globalisierung, des ­ungehemmten Kapitalismus und der ­fortschreitenden Digitalisierung ­begehren immer mehr Menschen auf. Länder des ­globalen Südens richten sich gegen die historische Dominanz des Nordens. Auch innerhalb von Staaten nimmt die Polarisierung zu, zeigen sich Bruchlinien, Ressentiments und ­Konflikte. Führt diese Wut zu einer neuen Symmetrie der Macht? 

Artikel in Thema Global - Lokal
Illustration: Claudine Etter

Nie war Wut so sichtbar wie heute. Sie zeigt sich auf allen Kanälen, überschreitet Grenzen, kommt aus dem Süden und richtet sich gegen den Norden. Die Himmelsrichtungen stehen für eine geografische und eine hierarchische Kluft. Die erste verläuft zwischen den politisch, sozial und wirtschaftlich schwachen Ländern des Südens einerseits und den reichen, stabilen und mächtigen Ländern des Nordens anderseits. Die zweite Kluft kennt weder Breiten- noch Längengrade. Hier erheben sich Unzufriedene, Übervorteilte und misstrauisch Gewordene gegen tatsächlich oder vermeintlich Privilegierte.
In der Kolonialzeit wähnten sich die europäischen Monarchien ihren Untertanen in Afrika, Asien und Lateinamerika zivilisatorisch überlegen und rechtfertigten damit ihren Machtanspruch. Seit der Auflösung der Kolonien und dem Ende des Kalten Krieges, dem Aufkommen der Globalisierung und der weltweiten Verfügbarkeit von Mobiltelefonen und Internet setzt sich jedoch die Logik der runden Erde durch: Jede Himmelsrichtung ist überall. Hashtags wie #ICantbreathe, #Not­inmyname und #MeToo prangern weltumspannend Machtungleichheit an.

Auflehnung gegen die Nord-Süd-Hierarchie
Wenn das Welt- und Menschenbild nach dem Oben-unten-Schema seine Kraft verliert, zerfällt die Akzeptanz dafür, dass einseitig über politische Ordnung, Nutzung von Ressourcen und Gestaltung von Beziehungen bestimmt wird. In den 1980er-Jahren deutete der Westen die Einladung Chinas, sich auf Augenhöhe zu öffnen, als Sieg abendländischer Werte über eine enigmatische, fernöstliche Diktatur. Europäische und amerikanische Staatschefs proklamierten «Wandel durch Handel» und meinten damit, dass sie nicht nur China, sondern alle Länder und Kulturen, die sie für rückständig hielten, mit dem freien Verkehr von Kapital und Industriegütern verwestlichen könnten. Als Indien und Pakistan 1998 Atombomben testeten, war die Empörung im Westen gross. Was für eine Anmassung, hiess es, dass zwei Entwicklungsländer die gleiche Zerstörungskraft erlangten wie die selbsternannte zivilisierte Welt! Der Versuch, eine Symmetrie der Macht mit dem Norden zu schaffen, scheiterte. Die Atomtests wurden mit Wirtschaftssanktionen und politischer Ächtung quittiert, die den westlichen Staaten nützten und Pakistan und Indien schadeten.
Die militärische Auflehnung der beiden südasia­tischen Staaten findet mehr als 30 Jahre später einen Widerhall im juristischen Vorgehen Südafrikas, das im Januar 2024 den Staat Israel vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Völkermordes verklagte. Wenn das Völkerrecht und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte universell gelten, so die Forderung, müssten sie nach dem Prinzip der Gleichbehandlung angewandt werden. 

Die Polarisierung nimmt zu
Die politische Haltung der Befürworterinnen und Befürworter einer Symmetrie der Macht ist je nach Ursache und Ziel der Entrüstung elastisch, ihr Blick­winkel kosmopolitisch oder lokal, ihre historischen ­Loyalitäten wankelmütig. Sie sind reich, arm oder mittelständisch, religiös, agnostisch oder atheistisch, alteingesessen oder zugewandert. Und sie sind anfällig für Ressentiments gegen Feindbilder, deren Konturen unscharf genug sind, um eine Rhetorik einfacher Lösungen für komplexe Probleme zu ermöglichen. Schlägt die Rhetorik in Populismus um, werden die Konturen schärfer und die eigene Position – links, rechts oder Mitte, für oder gegen das Schliessen der Klüfte zwischen den geografischen und hierarchischen Himmelsrichtungen – steht wieder in scharfem Kontrast zu der der anderen.
Gesellschaftliche Polarisierung kommt meistens als einzelne Welle und ebbt wieder ab. Laut einem Bericht des unabhängigen Forschungsinstituts Varieties of Democracy nimmt sie seit einigen Jahren aber drastisch zu. Im Jahr 2011 wurde sie in 5 von 202 untersuchten Ländern als Bedrohung für den sozialen Frieden angesehen; 2022 in 32 Ländern. Fast ein Viertel der Befragten gab an, wütend zu sein, vor allem wegen Ungerechtigkeit und Demokratieverlust. Bei so viel Wut muss damit gerechnet werden, dass sie die Menschen dazu antreibt, Zwänge abzuschütteln und sich ihre Autonomie zurückzu­holen.

Dramatische Folgen des Casino-Kapitalismus
Nach seinem Sieg über den Kommunismus präsentierte sich der Kapitalismus als natürlicher Zwilling der Demokratie. Sein Freiheits- und Wohlstandsversprechen ebnete dem Wirtschaftsliberalismus den Weg, selbst in sozialdemokratischen Kreisen. Wie viele andere Wirtschaftszweige wurde auch der Finanzsektor von mässigenden Gesetzen befreit. Es entstand der CasinoKapitalismus: hohe Risiken für viele, grosse Gewinne für wenige. Die Zockerei mündete in der globalen Finanzkrise von 2008. Millionen von Menschen verloren ihre Arbeit, ihr Hab und Gut. Statt die Branche wieder enger zu führen, retteten die Regierungen zahlreiche Banken, verstärkten den liberalen Kurs und schufen Anreize, damit Unternehmen in digitale Innovation investierten.

Tech-Unternehmen so mächtig wie Staaten
Eine neue Art des Kapitals entstand: Algorithmen. Sie sind die Grundlage für Cloud-Computing und Künstliche Intelligenz, die als virtueller Speicherplatz, Musik- und Videostreaming, Online-Läden, Suchmaschinen und Chatbots Teil des Alltags geworden sind. Ihre Nutzerinnen und Nutzer zahlen den Tech-Unternehmen wiederkehrende Gebühren und überlassen ihnen Unmengen an schützenswerten Daten, ohne im Gegenzug etwas zu besitzen. Die Angebote werden so attraktiv gestaltet, dass es unvernünftig erscheint, darauf zu verzichten. Je mehr solche digitalen Dienste genutzt werden, desto grösser wird die Abhängigkeit von ihnen. Die Tech-Unternehmen verarbeiten die Daten mithilfe ihrer Algorithmen und verkaufen sie an Parteibüros, Geheimdienste, Armeen und Firmen. Die Einnahmen fliessen oft auf Bankkonten in Steueroasen statt in den Kreislauf der Volkswirtschaft, in der das Geld ausgegeben wird. Die Eigentümerinnen und Eigentümer der Tech-Unternehmen erlangen dadurch eine gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Macht, die mit der des Staates konkurriert.

Grenzüberschreitende Mobilisierung dank Internet
Noch vor wenigen Jahren wurde Kritik am Wirtschaftsliberalismus als Häresie gebrandmarkt. Heute deutet der Zweifel am Dogma der schrankenlosen Handels- und Gewerbefreiheit, der Idee des grenzenlosen Wachstums auf einen weltweiten Paradigmenwechsel hin, der sich auch auf Protestmärschen für Demokratie in Tunis und Bogotá zeigt, bei Mahnwachen für den Frieden in London und New York, in abgeschnittenen Haaren für Menschenrechte in Teheran und Berlin. Dieselbe digitale Technologie, die zäh errungene zi­vil­gesellschaftliche Freiheiten auszuhöhlen droht, er­möglicht es den Menschen, ihre Mobilisierung zu ko­ordinieren und Informationen über Grenzen hinweg auszutauschen.
Inhaltlich ist dabei auffallend oft von Relokalisierung und Deglobalisierung die Rede. Wenn aber die Wirtschaftsleistung – und mit ihr der Kapitalismus – in die Kleinräumigkeit zurückgeholt wird, besteht die Gefahr, dass neue Klüfte zwischen den geografischen und hierarchischen Himmelsrichtungen entstehen. Es sei denn, die Art und Weise, wie Wohlstand, Wachstum und Handelsbilanz der Aussenwirtschaft berechnet werden, ist untrennbar verbunden mit einer ausgeprägten Symmetrie der Macht mit gewaltfreien Mitteln und weniger Wut. 

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