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15.02.2018 von Barbara Bohr

Börsengewinne mit Gefühl

Rund um die Uhr werden im Web nicht nur Informationen, sondern auch Meinungen und Gefühle zu Unternehmen publiziert. Softwareprogramme werten diese Stimmungen aus. Ihre Ergebnisse beeinflussen das Investitionsverhalten der Markt teilnehmenden – und damit den Börsenverlauf.

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Als die Modedesignerin Donna Karan zu den Vergewaltigungs- und Belästigungsvorwürfen gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein Stellung beziehen sollte, entschuldigte sie ihn zunächst und bezeichnete die betroffenen Frauen als mitverantwortlich. Die sozialen Medien reagierten mit einem kollektiven «Fuck you, Donna». Die Unternehmerin, die sich mit tragbarer und schicker Mode für berufstätige Frauen einen Namen gemacht hatte, sah sich im Netz wüsten Beschimpfungen und Drohungen ausgesetzt. Die Börse reagierte ebenfalls prompt: Die Aktien der G-III Apparel Group, die 2016 Donna Karans Label DKNY übernommen hatte, sackten ab. Binnen Sekunden analysierten Computerprogramme die negativen Äusserungen und lösten umgehend Verkäufe an der Börse aus.
Algorithmen ermitteln laufend das sogenannte Sentiment – Stimmungsäusserungen in Medien und sozialen Netzwerken. Sie helfen Analystinnen und Börsenhändlern, die Meinung einer breiteren Öffentlichkeit zu bestimmten Themen zu erkennen, und beeinflussen so Handelsentscheidungen. Twitternde CEOs und Prominente müssen sich deshalb gut überlegen, was und wie sie Ereignisse aus ihren Unternehmen öffentlich bewerten oder sich zu gesellschaftlichen Fragen äussern. Die Stimmung, die sie mit ihren Äusserungen erzeugen, kann unbeabsichtigte Kursturbulenzen auslösen. Wenn sich etwa Apple-Mitgründer Steve Wozniak kritisch über den Börsenliebling Tesla äussert – den Hersteller von Elektroautos und Solardächern aus dem Silicon Valley –, führt das nicht nur zu heftigen emotionalen Diskussionen im Netz, sondern auch zu einem Abrutschen der Tesla-Aktie. So geschehen im Oktober 2017.

Anspruchsvolle Algorithmen

Dass Stimmungsänderungen in den sozialen Medien und Schwankungen am Aktienmarkt zusammenhängen, ist nachgewiesen. Die Informatiker Johan Bollen, Huina Mao und Xiao-Jun Zeng zeigten bereits 2010 mithilfe eines Prognosemodells den Zusammenhang zwischen der Stimmung in englischsprachigen Tweets und dem kurzfristigen Trend des Dow Jones auf. Die Entwicklung eines solchen Algorithmus ist anspruchsvoll. Datenbasis der Analyse sind nämlich Texte. Im Gegensatz zu Kennzahlen bestehen sie aus Daten, die erst in eine bestimmte Struktur übertragen werden müssen, bevor ein Computerprogramm sie auswerten kann. Was schon Kinder intuitiv verstehen, muss eine Software mithilfe statistischer Methoden aufwendig «lernen». Sentiment-Programme beruhen im einfachsten Fall auf einer Einteilung von Wörtern in Klassen wie «positiv» und «negativ». Das Wissen, welche Wörter «positiv» oder «negativ» sind, zieht das Modell aus einer Liste hinterlegter Begriffe, einem Lexikon der Gefühle sozusagen. So stehen beispielsweise «gut», « super» und «klasse» für positive Gefühle und «schlecht», «enttäuschend», «schrecklich» für negative. Da Wörter sich in ihrer Gefühlsintensität unterscheiden, kann man das Sentiment zusätzlich gewichten. «Super» wird in einem Modell beispielsweise stärker gewichtet als «gut», «Euphorie» stärker als «Freude». Wenn ein Modell nur auswertet, wie häufig ein bestimmter Begriff genannt wird, kann es zu falschen Signalen kommen. Ein Finanzjournalist entdeckte, dass die Aktie der Beteiligungsfirma Berkshire Hathaway des Investment-Gurus Warren Buffett immer dann stieg, wenn die Schauspielerin Anne Hathaway in den Medien oft genannt wurde – beispielsweise als sie die «Oscar»- Verleihung moderierte oder ihr Film «Alice im Wunderland » anlief. Die Schauspielerin und die Beteiligungsfirma haben nichts miteinander zu tun – bis auf den Namen Hathaway. 

Überfodert von Grammatik und Mehrdeutigkeit

Ähnlich ist es, wenn ein Modell Grammatik und Satzstellung nicht berücksichtigt. Während der Satz «Das Virus zerstört die Blutkörperchen » eine negative Stimmung auslöst, hat der wortgleiche Satz «Die Blutkörperchen zerstören das Virus» eine positive Bedeutung für uns Menschen. Eine isolierte Wort-für-Wort-Betrachtung, ohne Berücksichtigung ihrer grammatikalischen Funktion im Satz, erfasst diesen Bedeutungsunterschied nicht. Hinzu kommen saloppe Formulierungen, elliptische Sätze, unverständliche Hashtags und improvisierte Abkürzungen (#metoo, #sjw), die den expressiven Charakter von Tweets ausmachen. Die Analyseprogramme müssen diese Besonderheiten erst lernen, was eine Auswertung in Echtzeit erschwert. Ironie, Sarkasmus oder Humor verstehen die meisten Modelle noch nicht; denn Mehrdeutigkeit ist die komplexeste Herausforderung im maschinellen Umgang mit natürlicher Sprache. Wen wundert's? Ironie und Sarkasmus führen auch im zwischenmenschlichen Kontakt häufig zu Missverständnissen. Für eine vollwertige Sentiment- Analyse wäre es langfristig aber unverzichtbar, ironische und sarkastische Aussagen auswerten zu können, gelten diese doch als besonders emotional.

Offen für Manipulation

Viele Studien zeigen, dass Sentiment-Analysen vor allem für kurzfristig orientierte Investorinnen und Investoren interessant sind, weil sie ihnen erlauben, frühzeitig auf einen Trend auf- oder davon abzuspringen. In den Jahren 2011 bis 2013 gab es einige Versuche, Aktienfonds aufzusetzen, deren Anlagestrategie einzig auf die Analyse von Twitter-Sentiments setzte. Diese Fonds wurden wegen mangelnder Nachfrage inzwischen wieder eingestellt. Sich nur auf die Sentiments aus einem sozialen Netzwerk verlassen zu wollen, hat die Anlegerinnen und Anleger nicht überzeugt. Sentiments können aber auch vorgetäuscht werden. Softwareprogramme, die als menschliche User getarnt sind (sogenannte Bots), können in den sozialen Netzwerken schnell und massenhaft erfundene Nachrichten verbreiten und so die Aktienkurse zu manipulieren versuchen. Analysefirmen und Aufsichtsbehörden haben deshalb spezielle Sentiment-Auswertungen entwickeln lassen, um solche Manipulationsversuche frühzeitig zu entdecken. Ausserdem werden die Analysemodelle von Firmen im Risikomanagement genutzt, etwa um die Reputation der eigenen Firma zu überwachen.

Börse verliert Glaubwürdigkeit

In den vergangenen Jahren haben sich die kommerziellen Programme zur Sentiment-Analyse dank verbesserten Algorithmen, leistungsstärkeren Computern und einer stetig wachsenden Datenmenge enorm verbessert und sind vom Börsengeschehen nicht mehr wegzudenken. Sie stellen eine sinnvolle Zusatzinformation für Investorinnen und Investoren dar, wenn sie den Anlagezeitpunkt optimieren wollen. Dadurch verstärken sie allerdings kurzfristig orientierte Spekulationen auf Gerüchte und Kurssprünge. Je mehr Marktteilnehmende kurzfristig agieren, desto grösser wird wiederum der Druck auf Unternehmen, ihre Strategien nur noch auf kurze Frist und damit wenig nachhaltig auszurichten. So ist es wenig erstaunlich, wenn Jungunternehmerinnen und -unternehmer nicht mehr an die Börse gehen wollen, weil sie sich diesem kurzfristigen Druck nicht aussetzen möchten. Die Börse als Institution verliert damit langfristig an Glaubwürdigkeit.

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