Herr Wiegandt, es kommt nicht oft vor, dass ein erfolgreicher Manager mit 60 Jahren einen radikalen Neubeginn beschliesst. Was hat Sie zu diesem Entscheid bewogen?
Klaus Wiegandt: Ich hatte schon länger geplant, nicht bis 65 zu arbeiten. Schon zwischen 50 und 60 hatte ich mir überlegt, dass ich noch etwas ganz anderes machen wollte.
Und wussten Sie gleich, was das sein sollte?
Ich wollte mich noch in den Dienst der Gesellschaft stellen. Und in mir ist die Erkenntnis gereift, dass wir so einfach nicht weitermachen können. Ich war beruflich viel in China unterwegs und hatte mit eigenen Augen gesehen, dass nicht nur Europa und die USA immer mehr Ressourcen und Energien verbrauchen, sondern auch die Schwellenländer, und dass der Klimawandel für die Menschheit zu einem immer grösseren Problem wird.
Wie hat Ihr Umfeld auf den Entscheid reagiert?
Meine Familie hat nicht geglaubt, dass ich das durchziehe.
Warum nicht?
Ich war immer ein Karrieremensch, habe täglich 12 bis 14 Stunden gearbeitet. Ich stand an der Spitze eines Unternehmens mit 200 000 Mitarbeitern in 23 Ländern. Meine Familie hat darunter gelitten. Aber ich bin dann 1998 wirklich in den Ruhestand getreten. Geld hatte ich genug verdient, aber ich hatte keine Lust auf Golfplätze und Weltreisen.
Sondern?
Ich habe mir erst mal Zeit genommen und sehr viel wissenschaftliche Literatur zum Thema Nachhaltigkeit gelesen. Dabei wurde mir klar, dass es sehr viele Studien in diesem Bereich gibt, aber nicht viel leicht zugängliche Informationen für die Zivilgesellschaft. Das hat mich motiviert, die Stiftung Forum für Verantwortung zu gründen. Und ich habe es nie bereut, die letzten 19 Jahre waren die besten meines Lebens.
Waren Nachhaltigkeit und Umweltschutz für Sie schon während Ihrer Karriere wichtig?
Umweltbewusstsein hatte ich immer schon, aber als Manager können Sie nur begrenzt Umweltschutz betreiben, weil Sie sonst die Wettbewerbsfähigkeit Ihres Unternehmens gefährden. Müssten wir beispielsweise die Kosten für CO2-Emmissionen in die Verbraucherpreise einkalkulieren, könnten sich viele Verbraucher eine Reihe von Produkten und Dienstleistungen nicht mehr leisten.
Was beispielsweise?
Den ganzen Flug- und Ferntourismus oder die Kreuzfahrten. Doch diese Bereiche wachsen heute am stärksten. Flüge werden immer günstiger, weil die Anbieter die Umweltkosten nicht verrechnen müssen. Oder nehmen Sie den Big Mac. Der müsste eigentlich 200 Dollar kosten, wenn man die Entstehungs- und Folgekosten einrechnet.
Wie kommen Sie auf diese Zahl?
Ein schwedisches Umweltinstitut hat das einmal ausgerechnet. Würde man die gesamten Produktions- und Folgekosten mit ihren Belastungen für die Umwelt und die Krankenkassen wegen der ungesunden Ernährung mit einrechnen, käme man auf diesen Betrag. Die ganze Fast-Food-Industrie würde nicht existieren. Das ist zwar ein Extrembeispiel, aber es zeigt das Problem auf.
Warum?
Weil Sie Ihren Job schnell los sind, wenn Sie als Manager die Rentabilität des Unternehmens gefährden. Deshalb muss die Politik härtere Rahmenbedingungen im ökologischen Bereich vorgeben, um die Wettbewerbsneutralität zu gewährleisten.
Die Menschen zu Verhaltensänderungen zu bewegen, ist sehr schwierig, selbst Umweltbewusste verzichten kaum auf den Flug in die Ferien.
Die Bequemlichkeit der Menschen habe ich tatsächlich unterschätzt. Selbst bei gebildeten Menschen wird eine Verhaltensänderung ein bis zwei Generationen brauchen. Deshalb ist der Kampf gegen den Klimawandel für mich jetzt mein wichtigstes Anliegen.
Wie wollen Sie das angehen?
Es ist mir klar, dass man die Verbraucher nicht so schnell umstimmen kann. Kein Politiker setzt irgendwelche unbequemen Massnahmen durch, die zu seiner Abwahl führen könnten. Und die Wissenschaftler geben sich damit zufrieden, aufzuzeigen, was uns droht. Aber ich glaube, dass der allergrösste Teil der Menschen sich noch nicht darüber im Klaren ist, was ungebremster Klimawandel wirklich bedeutet. Es geht nicht nur um schmelzende Pole.
Sondern?
Es geht um Brot und um Trinkwasser. Die chaotischen Wetterverhältnisse werden die Landwirtschaft immer stärker beeinträchtigen. Hunderte von Millionen Menschen könnten ab Mitte dieses Jahrhunderts deshalb Hunger leiden. Wir müssen dringend jetzt etwas unternehmen. Der Pariser Klimavertrag, der nur freiwillige Selbstverpflichtungen beinhaltet, wird nicht reichen. Gleichzeitig wird die Weltbevölkerung bis ins Jahr 2050 noch um weitere 2,5 Milliarden Menschen wachsen.
Was schlagen Sie vor?
Wir brauchen ein riesiges Aufforstungsprogramm. Ich nenne es «Wälder für die Welt». Die Forstwirte reden schon seit 20 Jahren davon. Nun müssen wir den Mut und den politischen Willen haben, das durchzusetzen.
Wie soll das aussehen?
Wir müssen das Abholzen der Regenwälder sofort stoppen und gleichzeitig grossflächige Aufforstungsprogramme in den Tropen und Subtropen starten. Wir brauchen 200 Millionen Hektar mehr Wald, das sind ungefähr 200 Milliarden Bäume, die CO2 binden. Deshalb planen wir vom Forum für Verantwortung aus eine Kampagne «Wälder für die Welt», um dieses Projekt einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen.
Viele Abholzungen finden ja nicht in Europa statt, wie wollen Sie die Zuständigen in den betroffenen Ländern zum Handeln bringen?
Wir müssen sie für die entgangenen Einnahmen entschädigen. Das heisst, wir zahlen jene Beträge, die sie von den Konzernen für die abgeholzten Regenwälder bekommen. Heute wird der tropische Wald abgeholzt, um Soja oder Palmöl anzubauen. Wenn es so weitergeht, wird es beispielsweise auf Borneo in zehn Jahren keinen Regenwald mehr geben.
Was würde das kosten?
Man müsste den Entwicklungsländern jährlich 50 Milliarden US-Dollar zahlen, damit sie das Abholzen stoppen, ein globales Aufforstungsprogramm kostet 20 Jahre lang etwa 150 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Aber allein die extremen Wetterereignisse des vergangenen Jahres haben 300 Milliarden Dollar an Schäden verursacht. Die Menschen in den reichen Ländern müssen begreifen, dass uns der Klimawandel sehr viel mehr kosten wird als diese 200 Milliarden Dollar für die Wälder, wenn wir jetzt untätig bleiben.
Sie können die Menschen in den tropischen Ländern nicht zu diesen Programmen zwingen.
Nein, aber nehmen Sie das Beispiel Ecuador. Der Präsident Ecuadors hat die westliche Welt vor acht Jahren um Hilfe gebeten. Im Regenwald an den Hängen der Anden hatte man Öl gefunden, aber er wollte den Wald nicht zerstören. Die reichen Länder haben 6 Milliarden Dollar Hilfe versprochen, damit er das Land nicht an die Konzerne verkauft. Nach sechs Jahren ist ihm der Kragen geplatzt, von den versprochenen 6 Milliarden waren nur 15 Millionen eingetroffen. Daraufhin hat er dem Druck der Öl-Firmen nachgegeben. Der Wille wäre also da. Aber bei uns fehlt der politische Wille noch, das Problem wirklich anzugehen. Deshalb möchte ich die Zivilgesellschaft aufrütteln.
Warum können wir nicht auch in den gemässigten Breiten aufforsten?
Weil es in den Tropen mehr bringt. Ein Hektar Wald kann bei uns 10 Tonnen CO2 im Jahr binden, in den Tropen jedoch 30 Tonnen. So können wir uns Zeit erkaufen, um Klimaschutzpolitik sozialverträglicher zu gestalten.
Wie wollen Sie das Projekt angehen?
Ich will als Erstes öffentliches Bewusstsein schaffen, um Druck auf die Politik auszuüben. Wenn das nicht gelingt, versuche ich, in der Wirtschaft Geld zu sammeln. Ich bin vorsichtig optimistisch, dass mehr Menschen die Dringlichkeit schon bald einsehen.
Sie werden nächstes Jahr 80, wie lange wollen Sie noch aktiv sein?
Meine Ärzte sagen, dass mir das Engagement sehr guttut, ich solle weitermachen. Ich wähle auch bewusst aus, wo ich mich engagiere. Zeit will ich keine vertrödeln, auf Empfänge gehe ich beispielsweise grundsätzlich nicht mehr.