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01.12.2017 von Marion Elmer

Kino mit Bar und eigener Stimmung

Mit einem neuartigen Konzept mischte die Neugass Kino AG vor fast zwanzig Jahren die Zürcher Kinolandschaft auf. Heute führt sie drei Kinos mit insgesamt dreizehn Sälen in zwei Städten. Der Kinozukunft sieht sie trotz neuer Konkurrenz zuversichtlich entgegen.


Beitrag der ABS
Artikel in Thema Porträts

Die Tarnung ist perfekt gelungen: Das unscheinbare Bürohaus im Kreis 5 lässt nicht vermuten, dass hier eines der innovativsten Zürcher Unternehmen seinen Hauptsitz hat: die Neugass Kino AG. Von hier aus betreibt und programmiert sie die Kinos Riffraff und Houdini in Zürich und das Bourbaki in Luzern, samt dazugehörigen Gastrobetrieben. Das Unternehmen beschäftigt heute 100 Angestellte, die sich 45 Vollzeitstellen teilen. Administration und Filmprogrammierung übernehmen die beiden Co-Geschäftsleiter, Frank Braun und Res Kessler, mit ihrem Team. Jeder Standort hat aber eine eigene Leitung für den täglichen Betrieb.

Kulturinsel im Problemquartier

Die Erfolgsgeschichte des Unternehmens beginnt in den Neunzigerjahren: Die Genossenschaft Kino Morgental möchte einen zweiten Kinosaal im Stadtzentrum zu eröffnen. Die Räume an der Neugasse im Kreis 5 sind ideal. Zuvor befand sich darin ein Spielsalon. Der Grundstein für Filmkultur wurde hier jedoch bereits 1913 gelegt, als das Volkstheater Stummfilme zeigte. Ab 1929 lud das darauf folgende «Cinema Modern» zum Filmgenuss ein.
Mitte der Neunzigerjahre weht im Kreis 5 ein herber Wind: Die Auflösung der Drogenszene am Platzspitz 1992 hat das Elend ins Quartier verschoben: Gefixt wird in Hauseingängen, dunklen Gassen und auf Kinderspielplätzen. Grosse Teile der Bevölkerung meiden das Viertel, vor allem nachts. Erst 1995 – nachdem die offene Drogenszene am Bahnhof Letten geräumt ist – halten Strassenleben und Kultur wieder stärker Einzug. 1996 findet die Gegenwartskunst im Löwenbräu ein neues Zuhause, das Schauspielhaus beginnt, sich in einer ehemaligen Schiffbauhalle eine Dependance einzurichten – und im März 1998 eröffnet an der Neugasse das neue Kino mit zwei Sälen: Riffraff 1 und 2. Zusammen mit dem asiatischen Restaurant Lily’s und der Acapulco-Bar bildet es während einiger Jahre ein kleines Ausgeh-Dreieck im rauen Viertel.

Kino und Gastronomie aus einer Hand

Die Neugass Kino AG wird eigens für den Betrieb des Riffraff gegründet. Die Suche nach einer Bank, die einen Teil des Startkapitals zur Verfügung stellt, ist doppelt schwer: Einerseits ist die Kinobranche nicht gerade als Goldesel bekannt; andererseits wollen die Initianten ihr Quartier ausgerechnet im verrufenen Kreis 5 aufschlagen. Die Alternative Bank Schweiz erkennt jedoch das Potenzial des Projekts und ist bereit, Geld zu investieren. So beginnt eine bis heute anhaltende Partnerschaft.
Um im einstigen Kino zwei Säle und eine Bar einzupassen, wird eine ungewöhnliche Raumaufteilung und Projektionstechnologie gewählt. Aus der Projektionskabine wird das Filmbild über den kleinen Saal hinweg durch die Bar in den grossen Saal projiziert. Als Lichtkegel fällt das Bild zurück an die Wand in der Bar und verleiht ihr einen ganz eigenen Charakter. Das Rauchverbot von 2010 habe vor allem ein ästhetisches Problem bereitet, sagt Co-Geschäftsleiter Res Kessler halb im Scherz: «Der Projektionsstrahl war nur wegen des aufsteigenden Rauchs so schön.» Heute sorgt eine Nebelmaschine bei speziellen Anlässen für einen ähnlichen Effekt.
Auch mit der Idee, Kino und Gastronomie zusammenzudenken, beschreiten die Gründer weitgehend Neuland. Ein Glas Wein trinken und gleichzeitig einen Film sehen, das konnte man früher nur in den eigenen vier Wänden oder im Sofa-Kino Xenix. Das Foyer des Riffraff ist auch eine Bar, in der man sich auf ein Bier treffen kann, ganz ohne Kinobesuch. Entscheidet man sich doch für einen Film, bevor das Glas leer ist, darf man es in den Saal mitnehmen.
Für die Filmprogrammierung sorgt damals wie heute Frank Braun, der etwa im Kino Xenix Erfahrung sammelte und zu den Gründern der Neugass Kino AG gehörte. So überzeugt das Riffraff innert Kürze mit sehenswerten Filmen in Originalsprache, die ohne Pause gezeigt werden. Bereits vier Jahre nach der Eröffnung kommen im benachbarten Neubau die Säle Riffraff 3 und 4 sowie ein Bistro dazu.

Expansion nach Luzern und Wiedikon

2004 wird bekannt, dass das Kino Pix im Bourbaki Panorama in Luzern Konkurs geht. Schnell entschlossen schreitet die Neugass Kino AG ein, übernimmt das Kino, das sie später in Bourbaki umbenennt, und erweitert es um die Säle 3 und 4. «Für eine Gruppe in unserer Grösse ist es ungewöhnlich, in zwei Städten präsent zu sein», sagt Kessler nicht ohne Stolz. Und auch in Luzern reichen sich Kino und Gastronomie die Hand: Ein Bistro und, im Sommerhalbjahr, eine beschattete Terrasse auf dem Löwenplatz laden zum Verweilen ein.
2009 fragt die Genossenschaft Kalkbreite in Zürich an, ob man in der neuen Überbauung einen zweiten Standort betreiben wolle. Der Strukturwandel in der Kinolandschaft zeichnet sich da bereits ab: Die Besucherzahlen sind rückläufig, die Digitalisierung setzt der Branche zu. Das erste Zürcher Studiokino von 1935, das Nord-Süd am Limmatquai, muss 2011 seinen Betrieb einstellen. 2014 schliesst das hundert Jahre alte Kino ABC (früher: Orion) seine vier Säle. Brauchte es ein weiteres Kino, nur eine Viertelstunde Fussweg vom Riffraff entfernt? «Wir machten aus der Not eine Tugend und planten kleine Säle, die auf dem digitalisierten Markt mitspielen können und sich nicht wie das Riffraff über Filme definieren, die in Zürich exklusiv gezeigt werden », erzählt Kessler: Dieses Konzept überzeugt die ABS, sie bleibt weiterhin als Partnerin an Bord. Für die Raumgestaltung gilt: Die Verwandtschaft mit dem grossen Bruder Riffraff muss erkennbar sein, dennoch soll das Kino eine eigene Identität erhalten. Das Architekturbüro Staufer & Hasler aus Frauenfeld, das bereits mit Meili, Peter zusammen die Riffraff-Kinos gestaltet hat, entwickelt eine offene Raumsequenz um fünf kleine Kinosäle. Der grosszügige Bar-Foyer-Raum zieht sich über zwei Geschosse bis zur Lounge auf der Galerie.
Im Februar 2015, nur ein halbes Jahr nach der Houdini-Eröffnung, muss das Unternehmen den grössten Rückschlag in seiner Geschichte hinnehmen: Ein Kabelbrand zerstört die neue Bar im Erdgeschoss. Die Rauchentwicklung ist so stark, dass nicht nur Bar und Foyer saniert, sondern Leinwände, Seitenwände und Technik in den Sälen ersetzt werden müssen. «Wir hatten Glück, dass wir richtig versichert waren», sagt Kessler. Die Sanierung ist administrativ aufwendig, dazu kommt der Druck, möglichst bald wieder zu eröffnen. Neun Monate später wird die zweite Houdini-Eröffnung mit einem grossen Fest gefeiert.

Stimmung für ein Kino erzeugen

Im Herbst 2017 ist an der Langstrasse, ebenjener Achse, die Houdini und Riffraff miteinander verbindet, mit dem Kosmos ein weiteres Kino mit hohem Qualitätsanspruch eröffnet worden. Was hält die Neugass Kino AG von der nahen Konkurrenz? «Grundsätzlich ist es toll, dass Kinos aufgehen und nicht sterben», sagt Kessler, «längerfristig wird es eine Bereinigung geben.» Einzel- und Duplexkinos seien nicht mehr rentabel, und die Grösse der Säle sei zentral.
Um sein Unternehmen macht er sich keine Sorgen. Das Konzept, in einem Kino eine bestimmte Stimmung zu erzeugen und der Kundschaft ein abwechslungsreiches Programm zu bieten, funktioniert nach wie vor. Im Riffraff sind die jüngeren Kinobesucher zu Hause. «Läuft ein Film im Kosmos, kommt er nicht ins Riffraff, und umgekehrt», so Kessler. Im Houdini ist das Publikum breiter: Neben Nischenfilmen und einer Kinderkinoreihe laufen hier auch Blockbuster. Es gebe ein Publikum für diese Filme, sagt Kessler: «Die Leute sind froh, wenn sie sich den neuen Star Wars nicht in einem unpersönlichen Multiplex-Kino ansehen müssen.»

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